Despina Palaska: Der unbekannte Vater

Ich stand vor seinem Haus. Ich musste nur die Straße überqueren und klingeln. H örte sich eigentlich einfach an, aber meine Füße entwickelten in diesem Moment ein eigenes Leben und bewegten sich in die andere Richtung. Ich versuchte, sie zu kontrollieren, aber sie gehörten mir nicht mehr. Als ich vor einem kleinen Café stand, in sicherer Entfernung zu dem Haus, gewann ich wieder die Kontrolle über sie. “Na gut! Dann trinken wir zuerst einen Kaffee!”, sagte ich zu ihnen. Sie schienen keine Probleme damit zu haben, und so marschierte ich in das Café.

Ich bestellte einen Cappuccino mit viel Zimt und versuchte, krampfhaft zu verstehen, was da eben mit mir passierte. Ich war doch bereit, ihn zu treffen. Nach all den Jahren hatte ich den Mut gesammelt und die Kraft. Ich war hier angekommen. Nur um ihn zu sehen. Ich wollte schließlich wissen, wie mein eigener Vater aussah! Ich hatte doch alles so gut geplant! Ich würde zu ihm gehen, mich vorstellen, und dann würden wir miteinander sprechen. Perfekt! Warum hatten meine Füße dann rebelliert?

Du hast Angst”, sagte die Stimme in meinem Kopf laut. Meine Füße tun, was sie wollen. Ich höre Stimmen, ein Psychologe hätte bestimmt Spaß mit mir, dachte ich und trank meinen Kaffee. Ich hatte keine Angst. Es war doch mein Vater, der in diesem Haus wohnte, und kein Monster. Ich war 35 Jahre alt, besaß einen Beruf, Familie, Freunde. Eine erwachsene, lebendige und glückliche Frau. Genau das war ich! Eine Frau, die ihren Vater zum ersten Mal sehen würde!
Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich zwei war. Ich hatte meinen Vater seitdem nie getroffen. Aber er hatte mir auch nicht sehr gefehlt! Ich wuchs bei meinen Großeltern auf, und mein Opa, der sehr jung gewesen war, übernahm die Vaterrolle.
Meine Mutter arbeitete viel und lang, ich sah sie kaum. Als Kind entwickelte ich keine wirkliche Beziehung zu ihr, und als junges Mädchen stritten wir ständig. Jetzt konnten wir höflich miteinander umgehen, aber auch nicht für lange Zeit. Wir wären uns sehr ähnlich, behauptete mein Mann immer. Ich hoffte nicht. Sie wirkte immer so verbittert, ja beinahe zornig. Ich hatte stets das Gefühl, sie zu enttäuschen. In der Vergangenheit hatte ich sie immer wieder enttäuscht – mit Absicht, weil sie doch nichts anderes erwartete.

Aber das war alles vorbei. Es hatte nichts mit meiner momentanen Situation zu tun. Ich war hier, weil ich einfach meinen Vater kennenlernen wollte. Es gab keinen Grund, Angst vor irgendetwas zu haben.
“Ablehnung. Er will dich nicht. Er wollte dich nicht. Auch er nicht.” Diese penetrante Stimme in meinem Kopf ist sehr nervtötend. Ich sollte sie einfach ignorieren. Besonders, wenn sie so einen Unsinn redete. Was hieß hier Ablehnung? Und wer lehnte mich außer ihm ab? Meine Mutter? Unsinn. Und noch mal Unsinn! Sie liebte mich. Ja, wir hatten unsere Probleme, aber wer hatte diese nicht? Sie lehnte mich nicht ab. Sie war zwar nie einverstanden mit allem, was ich tue, aber das war doch keine Ablehnung.
Und mein Vater? Er konnte mich doch gar nicht ablehnen. Ich war nun einmal da. Ich wollte nicht seine längst verlorene Tochter sein: Einfach nur hallo sagen, mit ihm sprechen, sehen, was er für ein Mensch war. Was sollte er schon machen? Mir die Tür vor der Nase zuschlagen? Das wäre doch gelacht!

Meine Mutter hatte nie schlecht über ihn gesprochen. Ihre Trennung hatte nichts mit mir zu tun. Sie passten nicht zusammen und trennten sich schnell, bevor sie sich jahrelang gegenseitig das Leben schwer machten. Das kam mir vernünftig vor. Ich spielte bei ihrer Trennung keine Rolle.
Wirklich? Und warum wollte er dich nie sehen? Ich wusste es nicht. Es war auch nicht mehr wichtig. Ich suchte keinen Vater. Ich war nur neugierig. Mein gutes Recht. Ich wollte nicht, dass er etwas für mich empfand. Ich erwartete gar nichts von ihm, nur ein Gespräch. Das war alles.
Lügen. Du belügst dich doch selbst. Du willst, dass er dich liebt, du willst, dass er in Tränen ausbricht, du willst, dass er all die Jahre wieder gutmacht. Aber das wird er nicht, und davor hast du Angst. Weil du die Wahrheit kennst.

Ich stand so abrupt auf, dass die Frau vom Nebentisch den Kopf von ihrem Buch hob und mich erschrocken anschaute. Meine Gesichtsfarbe verwandelte sich in ein kräftiges tomatenrot, weil ich dabei den Stuhl umgestoßen hatte. Ich lächelte ihr zu und faselte etwas über Zeit, die davon flog.
Sie lächelte zurück.
Wahrscheinlich denkt sie, da ist eine Verrückte unterwegs. Ich bezahlte, schenkte der Kellnerin noch ein Tomatenlächeln und verließ das Café.
“Wir gehen jetzt zu meinem Vater. Wir überqueren die Straße und klingeln an der Tür. Also los!”, sprach ich mit meinem Kopf, meinem Herz sowie meinen Füßen und verdoppelte meine Schritte.
Niemand erwiderte etwas.
Ich lief los. Aber in die andere Richtung.

(Shortstory von Despina Palaska, Niederkrüchten)

 


 

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