Pagliaccio zog Roberto gleich beiseite. “Sie richten ihn also hin”, sagte er, “und sie haben um ein kleines Gastspiel gebeten. Das wollen wir ihnen gewiss nicht vorenthalten.”
“Meister, diese Narren ermorden einen weisen Mann.”
“Halt den Mund! Mach auf der Stelle die Bühne fertig!”
“Wir müssen ihm helfen … Nein …, oh nein, die Bühne mach’ ich nicht fertig.”
“Diese Dörfler sind jetzt im Blutrausch, schau in ihre irren Gesichter! Stell dich nur dagegen, dann schmeißen sie dich auch ins Feuer.”
“Und du würdest immer noch für sie spielen?”
“Widerlicher, kleiner Querkopf! Willst du dich als Fremder ins Recht dieses Dorfes einmischen?”
“Willst du als Fremder ihr Gold begehren?”
“Vielleicht möchtest du in den nächsten Tagen Baumrinde fressen, wir haben nämlich überhaupt kein Geld mehr.”
Das Gesicht des Jungen war inzwischen aschfahl. “Ich ertrage es nicht, Rodrigo. Ich kann mir diese Hinrichtung nicht ansehen …, nur um des verfluchten Geldes wegen.”
“Ach, dir steht der Heiligenschein schon ausgesprochen gut. Renn zum Jammern in den Wald und kehre wieder, wenn alles vorüber ist! Ich werde spielen, und du wirst zuvor die Bühne errichten.” Es bereitete ihm eine düstere Freude.
Zu gern wollte der Junge seiner Rolle des Dieners und Lehrlings entkommen. Wie sehr sträubte er sich dagegen, wie kämpften jetzt in ihm die Abscheu gegen das Tun des Meisters, der eigene Stolz und die Notwendigkeit des Gehorsams.
“Wenn du es nicht machst, bist du ein Abtrünniger”, versetzte Pagliaccio, “dann kannst du im Wald bleiben und dich vom Teufel holen lassen.”
Er warf einen Blick hinter sich, sah den Einsiedler, die schwarzgewandeten Gestalten mit ihrem Gold und Robertos Gesicht, der gerade in seiner eigenen Hölle schmorte. Ja, Roberto, eines weiß ich, es ist schwer nachzugeben, ohne umzufallen.
Plötzlich griff der Junge nach dem Halfter des Maultiers und führte es wortlos zu einem abgelegeneren Fleck auf dem Platze. Er begann, die Bühne zu errichten.
Inzwischen waren die Dörfler in lauernde Stille verfallen. Wieder stimmte der Einsiedler seine leise Melodie an, so rein und klar wie ein Gebet, das um ihn lag wie ein Schimmer. Ein Henker kam, dessen Gesicht von dieser gespenstischen Haube verdeckt war und beschmierte die Kleidung des Einsiedlers mit Pech.
Pagliaccio spürte einen Schauer den Rücken hinabrieseln. Diese Augen! Sie sahen dem Tod geradewegs ins Gesicht. Ja, sie waren abgründiger als der Tod, wohingegen sie den Henker gar nicht wahr zu nehmen schienen. Der Henker ist auch nicht der Tod, dachte Pagliaccio. Der Tod ist eine unsichtbare Kraft, er wirkt durch ein Lebewesen oder ein Element, und er kennt keinen Zufall. Irgendwann gibt jedes Wesen dem Tod sein Jawort, irgendwo an einem verborgenen Ort in der Seele. Doch wann sagen wir ja? Und warum?
Erst als der Henker den Reisighaufen mit der Fackel in Brand steckte, verzog sich das Gesicht des Einsiedlers vor Schrecken. Sein Lied vermischte sich plötzlich mit dem Knistern des Reisigs. Aus den unteren Zweigen stachen kleine Flammen hervor, die kaum sichtbar waren im grellen Sonnenlicht.
Doch Pagliaccio konnte sie riechen, und mit Entsetzen bemerkte er, wie plötzlich an sämtlichen Stellen in immer tieferen Orangetönen die Flammen nach oben stoben. In lautloser Hingabe stierten die Dorfbewohner auf den gefesselten Menschen und den unheimlichen Tanz des wachsenden Feuers. Wie nah es schon den Beinen war! Nichts mehr würde von diesem Wesen in den bunten Stofffetzen mit den alles erkennenden Augen und dieser klaren, dunklen Stimme übrig bleiben. Mit den Handflächen suchte er nach dem Schlag seines eigenen Herzens. Wie lebendig es sich anfühlte! Und dieser feste Körper zerfiel so schnell, wenn keine Seele mehr in ihm wohnte. Nichts mehr würde gleich sein bis auf Asche … Entsetzlich, das Sterben zu erleben! Wach zu sein, wenn der Körper verglühte, bevor die Seele ausgezogen war. Wo bei allen Geistern steckte Roberto? Im Wald? Geflohen? Würde er zurückkommen? Pagliaccio spürte eine brennende Angst. Dieser Mord hier war kein Spiel, auch nicht die Qualen des Einsiedlers, der sich mit weit aufgerissenen Augen wie ein Wurm in den Ketten wand. Hier war eine endgültige, brutale Wirklichkeit zu Gange. Eine Wirklichkeit, die ihn am Grund seiner Seele lähmte.
In diesem Moment zerriss ein furchtbarer Schrei seine Gedanken. Das Feuer begann, sich in den Körper des Einsiedlers zu fressen. Ein Zischen, der üble Geruch von brennendem Menschenfleisch. Wieso zog der Henker die Schraube nicht an? Wieder dieses fürchterliche Kreischen, nur noch keuchende Fragmente jener weisen Melodie. Töne wie vom Himmel stürzende, zerfetzte Krähen. Der Bürgermeister verfolgte das Schauspiel mit eisiger Miene.
“Bürgermeister”, rief Pagliaccio mit zitternder Stimme. “Der Henker! Er muss endlich die Schraube anziehen!”
“Das Feuer soll den Teufelsmenschen ganz und gar fressen”, gab der Bürgermeister unerbittlich zurück. “Es ist gefährlich, ihn schon jetzt zu erwürgen, seine Seele könnte zu rasch entfliehen. Das Feuer soll seinen Körper fressen und die Seele.”
“Die Seele ist doch unsterblich”, stieß Pagliaccio hervor. “Ihr werdet sie nicht erwischen, macht ein Ende, macht ein Ende!”
Der Bürgermeister schwieg.
Und Pagliaccio starrte in lähmender Machtlosigkeit auf die menschliche Fackel. Erst als der halb verkohlte Körper des Einsiedlers bewegungslos in den Ketten hin, zog der Henker die Schraube zu. Ein Quietschen, ein Krachen, als das Genick brach.
“Nun ist er ganz und gar tot”, röchelte der Bürgermeister. Sein Gesicht war ebenso fahl wie der Qualm des Feuers.
Verreck du nur bald!, fluchte Pagliaccio innerlich. Alle Götter mögen dich verrecken lassen!
Die Menge stand regungslos, als könne sie ihren Augen nicht trauen, dass der Teufelshexer gestorben war. Erst als das Feuer ganz um ihn emporloderte, als es ihn bedeckte wie ein rotes Tuch, brachen die Starrenden in krächzendes Geschrei aus.
Pagliaccio empfand eine beißende Übelkeit. “La commedia è finita”, hatte der alte Meister Petruccio immer gesagt, wenn der Vorhang fiel. Das Spiel ist aus.
Was war mit ihm selbst? Wartete jetzt nicht sein Schauspiel? Hatte er nicht darum gebuhlt mit seinen Verbeugungen, als man ihm die Goldstücke hinhielt? Hatte er sich nicht verbeugt wie ein dummer Affe, der Zucker fressen wollte? Sie schienen auf krankhafte Weise gierig nach Emotionen, wie die Vampire nach Blut. Oh nein, der Einsiedler hatte diesen Schrumpfköpfen keine Gefühle entgegengebracht. Weder lautes Flehen, noch rührselige Reden – wie ausgesprochen herzlos von ihm. “Mögen die Götter dich segnen und mich”, murmelte Pagliaccio. “Nun muss ich deine Steuer zahlen.”
Ihre hohlen Augen blickten erbarmungslos zu dem Platz jenseits der Richtstätte. Dorthin, wo der Garten der Schlange stand. Und wie eine Geisterlegion setzten sie sich auf einmal in Richtung Bühne in Bewegung.
Er hatte ihnen zu gehorchen.
Als er auf den Brettern seiner Bühne stand, wandten sich ihm die merkwürdigen Personen ganz zu. Pagliaccio spürte, wie ihn dieselbe Seelenfinsternis umfing. Ja, er kannte dieses Gefühl des Verschmelzens. Diesmal schien es ihm wie ein schwarzer, tiefer Sumpf. Und es war ihm, so fühlte er meistens vor einem Spiel, als schälte sich etwas aus ihm hervor, als kehrte sich sein Äußeres nach innen und sein Inneres nach außen. Er spürte seine tatsächliche Gestalt verschwinden, spürte, sich zu etwas werden, das nur noch zeigte. Vergessen breitete sich in ihm aus, Vergessen ob seiner selbst. Es war ein Gefühl, das ihn schweben ließ, welches ihn aus diesem schwarzen, tiefen Sumpf emporhob. Und mit einem Mal kannte er auch die Geschichte, die er diesen abscheulichen Gestalten zeigen wollte.
Ein Teil von ihm wurde zu einem Gnom. Einem biestigen, gedrungenen Zwerg, der ein scharfes Messer in der Hand hielt. Damit wollte er die Menschen hinterrücks abschlachten und sie hernach braten. Sein anderer Teil blieb der Spaßmacher. Der Spaßmacher wollte den Gnom mit einem Schmetterlingsnetz fangen, denn es war eine hohe Belohnung ausgesetzt. Das grässliche Geschöpf aber verstand es gut, sich immer wieder zu entwenden. Es hüpfte empor und sprang geifernd davon. Der Spaßmacher jagte den Gnom über Berge, in einem Boot über das Meer, und immer, wenn er ganz nahe dabei war, ihn zu erlegen, da stach der Gnom ihn mit dem spitzen Messer und entkam. Die Dörfler lachten rasselnd und rau. Sie keuchten, würgten, doch es war immerhin Gelächter. Und noch während des Spiels begriff Pagliaccio, dass der Gnom nur die tückische Krankheit sein konnte, die er gerade zu besiegen suchte. So hetzte er den Gnom, und der Gnom wurde immer schwächer, bis er ihn schließlich in dem Netz zusammenschnürte. Mit ausgebreiteten Armen kredenzte er den Dörflern das unsichtbare Paket. Sie brachen in schrilles Freudengeheul aus. Er war siegreich gewesen. War es jetzt nicht an der Zeit für seine Belohnung?
Zu seinem Erstaunen bewarfen sie ihn alsbald mit Münzen, dass er zurückweichen und sein Gesicht mit einer Maske schützen musste. Was glänzt da in der Sonne, dachte er noch ganz schwindelig von seinem Spiel. So golden wie die Tränen der Götter … Von einer plötzlichen Furcht um das Geld befallen (wer konnte diese Wahnsinnigen schon berechnen?), stürzte sich Pagliaccio zu Boden. Kniend in dem Münzregen raffte und raffte er, manchmal ganz panisch, wenn ihm eins der Goldstücke entkam. Ein Wahn hatte ihn befallen, dass nur, was in seiner Truhe lag, sicher war. Die Truhe gehörte ganz und gar ihm. Er merkte gar nicht, wie der Regen allmählich schwächer wurde. Zu sehr war er damit beschäftigt, all diese umherfliegenden und rollenden Göttertränen einzufangen. Und diese garstigen Dörfler wirkten recht vergnügt dabei, die Münzen kreuz und quer zu werfen, ihn zu hetzen und umherzutreiben. Zu einem Hund war er verkommen, es musste in der Tat lustig sein, einen menschlichen Hund zu beobachten. Aber das kümmerte ihn nicht. Er wollte das Geld.
(Auszug aus dem historischen Roman “Pagliaccio” von Regina Maier, München)
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