C. S.: Wenn Liebe krank macht

1

Als sie langsam wieder zu sich kam und die Augen öffnete, war sie alleine. Ihr Blick wanderte durch einen dunklen, kahlen Raum, der eine unangenehme Mischung aus Angst und Leere in ihr auslöste. An ihrem rechten Oberarm spürte sie plötzlich einen zunehmenden Druck, der von einem leisen Brummen begleitet wurde, und sie ertastete mit den Fingern das Band eines Blutdruckmessgerätes. Ihr Blick fiel nun auf den Infusionsbeutel, der neben dem Bett, auf dem sie lag, an einem Ständer hing und von welchem ein dünner Schlauch zu ihrem Handgelenk führte. Inzwischen hatte sich auch ihr rechter Fuß bemerkbar gemacht, der immer stärker zu pochen begann. Neugierig nach der Ursache suchend versuchte sie, sich mit beiden Ellenbogen abzustützen, um ihren Kopf vorsichtig nach vorne zu beugen. Doch in diesem Moment setzte ein weitaus heftigeres Pochen seitlich ihres Schädels ein, und sie sank erschöpft wieder auf ihr Kopfkissen zurück. Was war mit ihr geschehen und wo um alles in der Welt war Michael? Sie bemühte sich krampfhaft, sich an etwas zu erinnern, was ihr Aufschluss geben könnte, doch in ihrem Kopf herrschte nichts als Leere. Aber sie musste sich doch an etwas erinnern können, sie musste einfach wissen, ob es Michael gut ging. Ihre Kopfschmerzen stiegen ins Unerträgliche, und mittlerweile wurde aus dem anfänglich leichten Pochen ihres Beines ein heftiges Ziehen. Wieso kam denn auch niemand und klärte sie auf? Sie lag hier doch offensichtlich in einem Krankenhaus. Ob es die Intensivstation war, vermochte sie nicht, zu beurteilen, wenngleich sie es nicht annahm. Sie musste einen Unfall gehabt haben, anders konnte sie es sich nicht erklären. Aber was war geschehen? Am meisten quälte Lara jedoch die Frage, ob Michael in diesen Unfall verwickelt worden war?
Diese Gedanken machten sie wahnsinnig, sie wollte endlich Gewissheit haben. Doch als sie den Mund öffnete, um nach einer Schwester zu rufen, war außer einem leisen Krächzen nichts zu vernehmen. Sie versuchte erneut, sich aufzurichten, aber diesmal straften sie ihre Kopfschmerzen noch mehr als beim ersten Mal, und sie gab es verzweifelt auf. Irgendwann würde schon eine Schwester oder ein Arzt ihr Zimmer betreten, um nach dem Rechten zu sehen. In diesem Moment fiel ihr Blick auf die kleine Fernbedienung mit dem roten Knopf, die auf dem unmittelbar neben ihrem Bett stehenden Nachtisch lag. Vorsichtig, um ruckartige Bewegungen zu vermeiden, tastete sie mit den Fingern nach dem kleinen Apparat. Sie drückte mehrmals auf den roten Knopf und wartete ungeduldig, bis endlich eine junge Nachtschwester ihren Kopf durch die Tür steckte und sie besorgt anblickte.
“Sie sind aufgewacht, Frau Neumann. Wie fühlen Sie sich?”
“Es geht”, krächzte Lara und wollte nun endlich all die quälenden Fragen loswerden, doch ärgerlicherweise kamen aus ihrem Mund nur unverständliche Wortbrocken.
“Sie hatten einen Autounfall, aber glücklicherweise hatten Sie einen guten Schutzengel. Der Arzt wird Ihnen morgen früh den genauen Befund mitteilen. Versuchen Sie jetzt, noch etwas zu schlafen!”
Lara wollte sich nach Michael erkundigen, doch sie sah ein, dass es in diesem Augenblick keinen Sinn machte.
Die Nachtschwester flößte ihr etwas Wasser in ihren trockenen Mund und gab ihr eine Spritze in den linken Unterarm. Daraufhin verschwand sie ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer. Das Schmerzmittel zeigte rasch seine Wirkung, denn kaum ließen die Schmerzen in ihrem Kopf etwas nach, überkam Lara eine ungeheure Müdigkeit, und sie schloss die Augen in der Hoffnung, bei ihrem nächsten Erwachen Näheres zu erfahren.

 

2

Sie waren auf einer Party von Michaels bestem Freund Klaus eingeladen. Schon seit ein paar Tagen fühlte sich Lara nicht wohl und auch an diesem Abend war ihr furchtbar übel. Vermutlich hatte sie sich bei ihrer Mutter angesteckt, die mit einer Magen-Darm-Grippe im Bett lag. Es war kurz nach Mitternacht, als sie nach der Party Richtung Konstanz aufbrachen. Michael wäre gerne noch länger geblieben, das merkte sie nur zu deutlich an seinem Verhalten. Einem Außenstehenden wäre dies kaum aufgefallen, denn in seiner Gestik und Mimik lag nicht der Hauch einer Verstimmung, doch Lara kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er seinen Ärger nur geschickt zu überspielen vermochte.
“Es tut mir leid, aber mir ist wirklich nicht gut, Michael.”
“Gar kein Problem, mein Schatz. Die nächste Party kommt sicher bald”, erwiderte Michael mit einem gequälten Lächeln und strich ihr kurz mit zwei Fingern über die Wange, ohne ihr dabei in die Augen zu schauen.
“Weißt du was, du bleibst einfach noch, und ich rufe mir ein Taxi. Ich weiß doch, wie gerne du noch etwas mit den anderen feiern würdest.”
“Danke für das Angebot, Schatz. Aber ich habe schon zu viel getrunken, um noch Auto zu fahren, außerdem haben wir uns jetzt ja schon verabschiedet. Wie würde das denn aussehen, wenn ich wieder dort auftauchen würde.”
Das war typisch Michael, immer besorgt um seinen guten Ruf. Er machte sich ständig Gedanken, was andere von ihm hielten und war stets darauf bedacht, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Zu Anfang hatte Lara es als einen durchaus positiven Zug betrachtet, doch mit der Zeit kamen ihr diesbezüglich Zweifel. Auch kannte sie Michael zu gut, um zu wissen, dass jegliche weitere Diskussion die Sache nur noch verschlimmert hätte.
“Gut, dann lass uns fahren! Gibst du mir bitte den Schlüssel?”
Michael reichte ihr den Schlüssel, setzte sich wortlos neben sie auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. Dann hatte er das Radio für ihre Verhältnisse viel zu laut aufgedreht, und schweigend waren sie die verlassenen Straßen der kleinen Ortschaft, in der Klaus wohnte, entlanggefahren. Obwohl Lara die Gegend am Bodensee seit ihrer Kindheit kannte, konzentrierte sie sich genau auf die Straße, da sie wegen ihrer fehlenden Fahrpraxis keine sonderlich routinierte Fahrerin war. Michael dagegen war ein sehr guter Autofahrer und hatte die letzten zwei Jahre hart gearbeitet, um sich einen kleinen Gebrauchtwagen leisten zu können. Er bot ihr oft an, sie fahren zu lassen, aber wie bei vielen Paaren, bekamen sie beim Autofahren, wenn Lara am Steuer saß, ständig Streit, da er ihre vorsichtige Fahrweise kritisierte. Aus diesem Grund kam es nur in sehr seltenen Fällen, so wie in dieser Nacht, dazu, dass tatsächlich sie auf dem Fahrersitz landete.
Michael schien tief in seine Gedanken versunken und beachtete Laras Fahrstil kaum, was sie erleichtert feststellte und nun mit weniger Anspannung durch die Dunkelheit fuhr. Sie überquerten eine kleine Brücke und bogen dann in eine Landstraße ein, die durch ein vereinsamtes Waldgebiet führte. Um Michael nicht unnötig zu verärgern, stellte sie den Tempomatregler auf 100km/ h – die zulässige Höchstgeschwindigkeit. Sie dachte gerade darüber nach, gleich am nächsten Tag ihren Hausarzt aufzusuchen und sich ein Rezept gegen ihre Magenprobleme verschreiben zu lassen, als es auf einmal wie verrückt in ihren Bauch stach, sodass ihr vor Schmerzen Tränen in die Augen schossen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie nur ein verschwommenes Bild der vor ihr liegenden Landstraße. Dann ging alles auf einmal ganz schnell. Als ihr Blick wieder klar wurde, erkannte sie einen Hirsch, der urplötzlich aus dem umliegenden Waldstück auf die Straße gerannt kam. Michael hatte ihn im gleichen Moment entdeckt, doch ehe er etwas sagen konnte, hatte Lara panisch das Lenkrad zur Seite gerissen. Sie drückte mit aller Kraft auf die Bremse, doch die Geschwindigkeit war zu hoch gewesen, um den harten Aufprall zu verhindern. Das Auto war mit einem gewaltigen Donnern gegen die Leitplanke der gegenüberliegenden Straßenseite geknallt. Sie spürte einen höllischen Kopfdruck und hörte ein lautes Aufschreien.
In diesem Moment schlug sie die Augen auf und starrte in die erschrockenen Augen ihrer Mutter.
“Lara, wach auf! Es ist alles in Ordnung. Du hast überlebt, mein Schatz. Ich bin ja bei dir.”
Sie hatte nur geträumt, aber der Traum war ihr so real vorgekommen. Im gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass es kein Traum gewesen war. Sie hatte einen Unfall gebaut mit Michaels neu gekauftem Auto. Das würde er ihr nie verzeihen. Wo war er überhaupt? Er hatte neben ihr gesessen, aber sie konnte sich nicht mehr darin erinnern, was mit ihm nach dem Aufprall passiert war. Ihr Kopf musste gegen das Armaturenbrett geknallt sein, und dann war sie vermutlich bewusstlos geworden. Aber was um Himmelswillen war mit Michael geschehen?
“Mama, wo ist Michi?”, kam es krächzend aus ihrem Mund.
“Mach dir keine Sorgen, Larissa! Du musst jetzt erstmal wieder auf die Beine kommen. Du hattest solches Glück, mein Engel! Der Arzt wird gleich kommen und dich genau untersuchen.”
“Ist er tot?”, schrie sie mit all ihrer verbleibenden Kraft und schaute ihrer Mutter voller Angst in die Augen.
“Nein, mein Schatz, aber es hat ihn schlimmer erwischt als dich. Er liegt derzeit im Koma auf der Intensivstation, aber ich bin mir sicher, dass er durchkommen wird. Er ist doch ein Kämpfer. Und jetzt geht es erst einmal darum, dass du wieder gesund wirst.”
Das sah sie ganz und gar nicht so. Ihre eigene Gesundheit war ihr in diesem Moment völlig gleichgültig, das Einzige, was sie interessierte war Michaels Zustand. Wieso hatte es ihn schlimmer erwischt als sie? Das durfte nicht so sein, schließlich hatte sie den Unfall verursacht. Es war ihre Schuld gewesen. Warum hatte sie nur so panisch reagiert? Sie hätte einfach abbremsen sollen, anstatt gegenzulenken. Bei einem Zusammenprall mit dem Hirsch wäre alles vielleicht nicht so schlimm gekommen. Und wieso hatte sie den Hirsch nur so spät bemerkt? Ja, da war es wieder, diese Übelkeit, auch jetzt spürte sie den Drang, sich zu übergeben wieder ganz deutlich. Sie schloss die Augen erneut, um mit aller Kraft gegen das Übelkeitsgefühl anzukämpfen, aber es gelang ihr nicht.
Ihre Mutter bemerkte ihr Würgen und reichte ihr den unter ihrem Bett stehenden Nachttopf. Es gelang ihr kaum, sich nach vorne zu beugen, um sich zu übergeben, denn ihr Kopf fühlte sich bei jeder Bewegung an, als ob er im nächsten Augenblick platzen würde.
Kurz darauf ging die Tür auf und ein junger Arzt betrat das Zimmer. Er gab zunächst ihrer Mutter die Hand und sah dann mit besorgtem Blick zu Lara, die inzwischen wieder erschöpft in ihr Kopfkissen zurückgesunken war und beide Hände sanft auf ihren Bauch drückte.
“Wie geht es Ihnen, Frau Neumann? Haben Sie große Schmerzen?”
Lara, die immer noch nicht mehr als ein Krächzen hervorbrachte, schüttelte leicht den Kopf. “Mir ist etwas übel, und mein Kopf tut sehr weh.”
Der junge Arzt nickte, als ob er mit ihrer Antwort gerechnet hätte und wandte sich dann wieder Laras Mutter zu.
“Würden Sie bitte einen Moment draußen warten, ich möchte kurz mit Ihrer Tochter sprechen.”
Laras Mutter schaute den Arzt verwundert an, folgte seiner Anordnung jedoch, ohne weiter nachzufragen, und verließ das Zimmer.
Lara sah den jungen Mann fragend an, denn sie verstand ebenso wenig wie ihre Mutter, warum diese das Zimmer verlassen sollte.
“Frau Neumann, ich wollte Ihnen das Ergebnis unserer Untersuchungen mitteilen. Zunächst einmal, was Ihren Unfall betrifft, haben Sie Glück gehabt. Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung und ein verstauchtes Bein, aber weder Brüche noch andere Prellungen. Einige Tage Bettruhe, und Sie sind wieder fit.”
Er schaute sie aufmunternd an, aber Lara spürte, dass er ihr noch etwas zu sagen hatte und wartete darauf, dass er weitersprach.
“Außerdem kam bei unserer Untersuchung noch etwas heraus, was Sie vielleicht noch gar nicht wissen. Sie sind schwanger, Frau Neumann. Ich dachte, ich teile Ihnen dies erst einmal unter vier Augen mit.”
Lara hatte das Gefühl, den Arzt nicht richtig verstanden zu haben. Sie sollte schwanger sein? Das konnte gar nicht sein, sie und Michael hatten doch immer aufgepasst. Wie konnte das möglich sein? In ihrem Kopf drehte sich nun alles, tausend Fragen, die sie sich gleichzeitig stellte und auf die sie keine Antwort fand, schwirrten durcheinander.
Der Arzt, der Lara aufmerksam beobachtet hatte, merkte, wie sehr sie die Neuigkeit verwirrte. “Ich lasse Sie jetzt etwas alleine und sorge dafür, dass Sie vorerst nicht gestört werden, wenn es Ihnen recht ist.”
Sie wollte ihn noch so vieles fragen, in welcher Woche sie schwanger war, ob er wusste, wie es um Michael stand, aber sie brachte kein weiteres Wort hervor.
Der Arzt, der ihr Schweigen als Zustimmung wertete, nickte ihr noch einmal freundlich zu, verschwand dann leise aus dem Zimmer und ließ Lara mit ihrem Gefühlschaos alleine.
Die folgenden Stunden lag sie fast regungslos auf ihrem Bett, starrte die kahlen weißen Wände ihres Zimmers an und versuchte, ihre Gedanken etwas zu ordnen. In den letzten Stunden war so viel geschehen, was ihr bisheriges Leben grundlegend verändert hatte und noch weiter verändern würde. Der wichtigste Mensch in ihrem Leben lag irgendwo auf der Intensivstation und schwebte vielleicht in Lebensgefahr, und sie alleine hatte an seinem Zustand schuld. Aber das Schlimmste war, dass sie noch nicht einmal zu ihm konnte, geschweige denn, sich nach ihm erkundigen, da ihre Stimme jedes Mal jämmerlich versagte. Und jetzt hatte sie zu allem Übel noch erfahren, dass sie schwanger war. Einen ungünstigeren Zeitpunkt dafür gab es ja wohl kaum. Es kam Lara so vor, als ob ihr ganzes Leben, all ihre Träume, Wünsche und Hoffnungen, mit einem Schlag zerstört wurden und sie dabei machtlos zusehen musste.
In diesem Moment klopfte es energisch an die Tür und ein ältlich aussehender Polizist betrat ihr Zimmer. “Guten Tag! Mein Name ist Weber. Man hat mir gesagt, dass Sie hier liegen, Frau Neumann. Ich bin gekommen, um Ihnen ein paar Fragen zum Unfallhergang zu stellen.”
Lara sank noch tiefer auf ihr Kopfkissen zurück. Auch das noch! War der Tag bisher nicht schon schlimm genug gewesen? Jetzt musste sie sich auch noch vor dem Polizisten rechtfertigen, der alles andere als einen sympathischen Eindruck bei ihr hinterließ.
Ohne eine Miene zu verziehen, hatte er ein Unfallprotokoll und einen Bleistift aus seiner Tasche gezogen und sie mit einem eindringlichen Blick gemustert, so als hätte er sie bereits als schuldige Unfallverursacherin entlarvt.
Lara lief ein kalter Schauer über den Rücken bei dem Gedanken, diesem Mann den ganzen Unfallhergang immer wieder und wieder beschreiben zu müssen, bis er endlich Ruhe gab. Zum Glück merkte dieser bald, dass es nicht viel Sinn machte, Lara Fragen, die einer ausführlichen Antwort bedurften, zu stellen, da er ihr Krächzen kaum verstand.
“Das bringt uns so wohl nicht weiter, Frau Neumann. Melden Sie sich bitte auf dem Polizeirevier, sobald es Ihnen und Ihrer Stimme besser geht.” Auf einmal schoben sich seine Mundwinkel beinahe unmerklich leicht nach oben, und ein kleines, kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über sein Gesicht.
“Und schauen Sie mich nicht so ängstlich an, ich will Ihnen ja nichts Böses! Das Protokoll dient ja nur der Aufklärung des Unfalls. Ich wünsche Ihnen gute Besserung!”
“Danke”, krächzte Lara deutlich erleichtert darüber, dass ihr Verhör erst einmal auf unbegrenzte Zeit verschoben wurde. Doch kaum hatte Herr Weber die Tür hinter sich geschlossen, fiel ihr die Nachricht ihrer Schwangerschaft, die sie für einige Minuten erfolgreich verdrängt hatte, wieder ein, und Tränen schossen ihr ins Gesicht. Lara konnte sich nicht erinnern, schon einmal so verzweifelt gewesen zu sein.

 

3

Zwei Wochen später wurde Lara endlich aus dem Krankenhaus entlassen, mit der strengen Anordnung, weiterhin viel zu liegen und alles sehr gemächlich und ruhig angehen zu lassen. Doch nun, als sich ihre Stimme wieder erholt hatte und sie endlich auch kleinere Spaziergänge machen durfte, konnte sie keiner mehr davon abhalten, Michael zu besuchen.
Von Michaels Mutter, die ihr des Öfteren kleine Besuche abgestattet hatte, war sie über seinen Zustand genau informiert worden, was ihr allerdings kaum Grund zur Freude bereitete. Michael schwebte zwar nicht mehr in Lebensgefahr und war von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt worden, jedoch lag er nach wie vor im Koma.

Noch nie in ihrem Leben hatte sich Lara so alleine und verlassen gefühlt. Auch wenn sie sich oft mit Michael gestritten hatte und ihre Beziehung nicht immer ganz harmonisch gewesen war, hatte er in ihrem Leben doch einen ganz entscheidenden Platz eingenommen. Das wurde Lara in diesem Moment noch stärker als je zuvor bewusst. Sie fühlte sich vollkommen hilflos ohne ihn. Seit sie zusammen waren, hatten sie wichtige Entscheidungen, in Bezug auf ihre Zukunft, immer gemeinsam getroffen, und nun musste sie die schwierigste Entscheidung ihres Lebens ohne ihn treffen.
Lara war schon seit frühester Kindheit ein sogenannter “Was-wäre-wenn”-Typ. Sie stellte sich permanent verschiedene Zukunftsvarianten vor und überlegte dann, wie sie sich in einer derartigen Situation verhalten würde. Oft waren es die unrealistischsten und skurrilsten Fälle, die Lara in den Sinn kamen und über die sie sich Gedanken machte. Teilweise war es wie ein Spiel, denn es bereitete ihr Spaß, sich Dinge und Situationen vorzustellen. Auch die Variante einer plötzlichen ungewollten Schwangerschaft hatte sie in ihrer Vorstellung schon des Öfteren durchdacht, doch nun war es auf einmal kein Spiel mehr, sondern Realität. Bislang war sich Lara immer sicher gewesen, dass sie in so einem Fall zuerst einmal mit Michael reden würde, um mit ihm gemeinsam eine Entscheidung zu fällen.
Sie hatten in der Vergangenheit schon mehrere Male über Kinder gesprochen, aber stets waren sie sich einig gewesen, dass sie beide zunächst Karriere machen wollten und erst dann an eine Familiengründung zu denken war. Einmal hatte sie Michael direkt gefragt, was denn wäre, wenn es einfach so passieren würde, ohne dass sie es geplant hätten.
Aber wie immer hatte sich Michael ganz einfach aus der Affäre gezogen, indem er zu ihr sagte: “Aber Lara! Wenn man aufpasst, geschieht es nicht einfach so, und wenn doch, dann reden wir zu gegebenem Zeitpunkt darüber, Schatz, ja? Wir brauchen uns doch keine Gedanken über ungelegte Eier zu machen. Du weißt ja, zusammen finden wir beide doch immer eine Lösung!”
Ja, zusammen! Aber bei dieser Entscheidung konnte er ihr nicht helfen, und doch musste sie für ihn mitentscheiden, schließlich war es auch sein Kind. Wenn er doch nur endlich aus dem Koma aufwachen würde, dann wäre alles wieder so wie früher. Sie sehnte sich so sehr nach ihrem alten Leben zurück und vergaß dabei völlig, wie oft sie sich heimlich darüber beschwert hatte. Nicht selten hatte sie das Gefühl verspürt, dass ihr irgendetwas Entscheidendes in ihrem Leben fehlte, doch in diesem Moment vermisste sie nur Michael!
Wie sollte sie sich bloß entscheiden? Sie wollte nicht wie ihre eigene Mutter, die nach dem Tod ihres Vaters vor vielen Jahren nie wieder geheiratet hatte, ihr Kind alleine großziehen müssen. Doch ebenso wenig konnte sich Lara vorstellen, das Kind abzutreiben. Wenn sie nur erahnen könnte, wie Michael dazu stünde, dann wäre alles viel einfacher. Aber sie wusste ja noch nicht einmal, ob er je wieder aus dem Koma aufwachen würde. Seit Tagen grübelte sie nun darüber nach, was sie tun sollte, aber sie drehte sich im Kreis und kam nicht weiter. Bislang hatte sie nur mit ihrer Mutter über ihre Schwangerschaft gesprochen, und die hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie das Kind auf jeden Fall abtreiben sollte.
“Larissa!”, hatte sie mit fester Stimme gesagt. “Kind! Du ruinierst deine ganze Zukunft, wenn du jetzt ein Baby bekommst. Du bist noch viel zu jung und unerfahren, um ein Kind in die Welt zu setzen. Wie willst du es denn ernähren, solange du nicht einmal dein Studium abgeschlossen hast und jetzt auch noch ohne Vater dastehst? Du musst es abtreiben, das ist die einzig vernünftige Lösung, Larissa. Das siehst du doch ein, oder?”
Schnell war Lara klar geworden, dass es keinen Sinn machte, mit ihrer Mutter über dieses Thema zu sprechen, sie bereute, dass sie es ihr überhaupt erzählt hatte. Natürlich war der Zeitpunkt alles andere als ideal, aber es ging hier doch auch um ein Lebewesen, das ein Recht auf sein Leben besaß. Sie wollte sich später keine Vorwürfe machen müssen, dass sie nur aus Feigheit abgetrieben hatte. Dennoch war ihre Angst groß, nach der Geburt alleine mit dem Kind dazustehen, ganz ohne fremde Hilfe. Sie wusste, dass sie zur Not auf ihre Mutter zählen könnte, aber es war Lara zuwider, sie dafür anbetteln zu müssen und täglich einen vorwurfsvollen Blick zu ernten. Was sollte sie bloß tun? Was war in ihrem Fall die richtige Entscheidung?
Sie beschloss, zu Michael ins Krankenhaus zu fahren und es ihm zu erzählen. Erst neulich hatte sie wieder gelesen, wie wichtig es wäre, viel mit Komapatienten zu sprechen, da ihr Unterbewusstsein doch mehr aufnahm, als man sich vorstellen konnte.
Als sie sein Zimmer betrat, bemerkte sie Michaels Mutter zunächst nicht, die fast regungslos auf einem Stuhl an der Wand saß und eingenickt war. Doch bei Laras Eintreten hob sie den Kopf und sah Lara fragend an. “Was machst du denn schon wieder hier? Du solltest dich doch zu Hause ausruhen, Lara, du bist ja selber noch etwas schwach auf den Beinen.”
“Es geht schon, Maria, danke! Ich wollte Michael noch mal sehen, bevor die Besuchszeit zu Ende ist.”
Frau Bachmann schaute Lara kopfschüttelnd an. “Es ist schön, wie sehr du dich um Michi sorgst”, meinte sie dann freundlich. “Ich bin mir sicher, er spürt das.” Dann erhob sie sich, gab Michael einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verließ das Zimmer.
Nun war Lara alleine mit ihrem Freund. Es versetzte ihr jedes Mal einen gewaltigen Stich, ihn so daliegen zu sehen und nicht mehr für ihn tun zu können, als auf ein Wunder zu hoffen. Sie wusste, dass Michaels Mutter oft in die Kirche ging und eine Kerze für ihn anzündete. Den Gedanken fand sie sehr schön, doch sie selbst war kein gläubiger Mensch, und sie wusste, dass sie ihre Kraft nicht aus Gebeten schöpfen konnte. Vielmehr versuchte sie, im Internet Recherchen zu betreiben, um sich über diverse Heilmöglichkeiten bei Komapatienten zu erkundigen, doch die einzige Erkenntnis, die sie als Laie bislang getroffen hatte, war, dass der Verlauf eines Komas schwer voraussehbar war und einem nichts anderes übrig blieb, als abzuwarten. Allerdings glaubte auch Lara ganz fest daran, dass Michael ihre Anwesenheit spüren konnte, und so wartete sie bei jedem ihrer Besuche hoffnungsvoll auf eine Bewegung oder gar ein Zucken seiner Augen. Seit dem Unfall war nun ein Monat vergangen, und Michaels Zustand erschien nach wie vor unverändert.
Auch an diesem Abend fiel ihr keine Veränderung auf, aber dennoch war sie sich sicher, dass er ihr zuhörte, als sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählte. Es glich einem inneren Monolog, den sie führte und in welchem sie alle möglichen Aspekte und Argumente gegeneinander abwog. Am Ende war sich Lara auf einmal ganz sicher. Sie würde das Kind behalten! Eine Abtreibung kam für sie nicht mehr in Frage, nicht in dieser Situation. Michael sollte ihr nie den Vorwurf machen, dass sie aus Karrieregründen abgetrieben hatte. Ihr war klar, dass er dies vermutlich nie gedacht hätte, aber sie merkte immer deutlicher, wie sehr sie selbst schon an dem ungeborenen Kind in ihrem Bauch hing. Vielleicht würde es ihr Kraft geben können, die Kraft, die sie jetzt benötigte, um die nächsten Tage, Wochen oder gar Monate zu überstehen. In diesem Augenblick überkam sie eine ungeheure Erleichterung darüber, endlich eine Entscheidung getroffen zu haben, wenngleich sie wusste, dass es nicht leicht werden würde. Aber Lara war sich selten einer Sache so sicher gewesen, und das deutete sie als positives Zeichen.
Plötzlich klopfte es an die Tür, und ein Krankenpfleger, der kaum älter als sie selber war, betrat das Zimmer. “Ähm …, du bist sicher die Freundin von Herrn Bachmann, nicht wahr? Du musst jetzt leider gehen, die Besuchszeit ist schon seit einer Stunde vorbei.”
Lara hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war und stellte erstaunt fest, dass sie nun schon seit drei Stunden an Michaels Bett gesessen hatte. “Tut mir leid, ich habe die Zeit ganz vergessen. Ich gehe gleich”, rief sie dem Krankenpfleger nach, der schon wieder halb aus der Tür verschwunden war. Lara gab Michael einen Kuss auf den Mund, strich ihm zärtlich durch sein dunkel gelocktes Haar und flüsterte ihm ins Ohr: “Ich komme gleich morgen früh wieder, mein Schatz.”
Dann ging sie rasch zur Tür und trat auf den hell beleuchteten Gang der Station. Sie bemerkte den jungen Krankenpfleger erst, als sie fast mit ihm zusammengestoßen wäre. Erst jetzt betrachtete Lara ihn etwas genauer und stellte fest, dass er ein sehr markantes Gesicht hatte, das sie freundlich anlächelte.
“Du bist jeden Tag hier, oder?”
Erstaunt über seine Feststellung nickte sie und wunderte sich, dass er sie wohl schon öfters bemerkt haben musste, er ihr aber an diesem Abend zum ersten Mal aufgefallen war. Aber es war wohl kein Wunder, so vertieft sie seit dem Unfall in ihre Gedanken war, entging ihr wohl so einiges.
“Ich heiße übrigens Oliver. Ich mache hier gerade meinen Zivildienst.”
Lara lächelte ihn nun auch freundlich an und gab ihm die Hand. “Und ich heiße Larissa, aber eigentlich nennen mich alle Lara.”
“Du siehst ziemlich fertig aus, Lara. Ich glaube, du solltest dich mal etwas ausruhen.”
“Jawohl, Herr Doktor”, entgegnete Lara und grinste ihn dabei an. Auf dem Heimweg dachte sie noch etwas über die kurze Begegnung mit Oliver nach, was sie zum Schmunzeln brachte, aber schon kurz darauf war sie wieder ganz in Gedanken bei Michael und nahm ihre Umwelt kaum noch wahr.
Doch spät am Abend, als Lara am Schreibtisch ihres kleinen, wenn auch sehr gemütlichen Zimmers saß und ihre Gedanken in ihrem Tagebuch niederschrieb, fiel ihr Oliver wieder ein, und obwohl sie dieser Begegnung keine besondere Bedeutung zumaß, erwähnte sie ihn kurz in ihrem Tagesrückblick. Auch wenn ihre Freundinnen sie manchmal damit aufzogen, führte Lara seit ihrem zwölften Lebensjahr fleißig Tagebuch über all das, was sie in ihrem Innersten bewegte. Vieles von dem, was sie niederschrieb, war so intim, dass sie nie einer Menschenseele davon erzählte. Als sie noch ein kleines Kind war, hatten die Lehrer sich bei ihrer Mutter oft beklagt, wie verschlossen und introvertiert sie doch wäre. Im Gegensatz zu ihren Mitschülern, die redselig jeden Familienstreit ausplauderten, musste man Lara jedes Wort regelrecht aus der Nase ziehen. Im Laufe der Jahre hatte sich dies kaum geändert, und daher war Laras Tagebuch für sie lange Zeit so etwas wie eine fiktive Freundin gewesen, der sie alles anvertrauen konnte. Natürlich hatte sie mit der Zeit Freunde gefunden, mit denen sie die Dinge, die ihr im Kopf herumgingen, bereden konnte, aber nach wie vor half es ihr am meisten, abends kurz vor dem Schlafengehen ihre Gedanken zu ordnen, indem sie diese in ihr Tagebuch schrieb. Am meisten bereitete Lara die Vorstellung Angst, dass jemand eines Tages all ihre geheimsten Gedanken lesen und sich gar darüber lustig machen könnte. Aus diesem Grund hütete sie ihre Tagebücher wie ihren Augapfel und hatte bisher kaum einem Menschen überhaupt von ihrem Hobby erzählt. Insbesondere in den letzten Tagen, seit sie wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war, half es ihr sehr, auf diese Weise mit der ganzen Situation und ihren Schuldgefühlen etwas besser klar zu kommen. Auch an diesem Abend fühlte sie sich, nachdem sie ihren Eintrag beendet hatte, angenehm befreit und hoffte, endlich einmal eine Nacht wieder richtig durchschlafen zu können, ohne von einem der sie in letzter Zeit ständig quälenden Alpträume aus dem Schlaf gerissen zu werden.

(Auszug aus dem Roman von C. S.)

 


 

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