Regina Maier: Der Inquisitor, Leonardo und Emilia

Zwei Soldaten führten Emilia in die Mitte des Gerichtssaals. Ihre feine, in einfaches Leinen gekleidete Gestalt wandelte zwischen ihnen wie ein Luftgeist. Im Gerichtssaal regte sich nichts mehr. Selbst das Getrappel der Ratten hinter der Wandvertäfelung verstummte. Nur die Staubkörner tanzten auf den Sonnenstrahlen, und Emilia stand inmitten dieses Nebels aus Staub und Sonnenlicht.

“Schließt die Fensterläden!”, ordnete Leonardo an. “Es ist zu viel Licht hier drin.” Er wartete, bis ein Schatten über Emilias Gestalt fiel und betrachtete sie schweigend. Ein Richter, schließlich, hatte die Angeklagte zu durchdringen. Gleichermaßen aber empfand er das unheimliche Gefühl, als ob der Inquisitor ihn durchdrang. Machst du auch alles richtig? So, wie ich es will? Wie leicht war es ihm gefallen bei all jenen Verbrechern, auf deren groben Mienen falsche Reue lag. In Gedanken hörte er den Klang seiner eigenen Stimme, während er das Todesurteil sprach, spürte diese merkwürdige Faszination, wenn die Botschaft mit jedem Wort endgültiger wurde. Dann entdeckte er das Entsetzen in ihren Gesichtern, die abgründige Angst vor dem Tode, und jedes Mal stahl sich eine Ahnung in sein Bewusstsein, was Leiden bedeutete. Er würgte es hinunter. Doch jetzt tauchte diese Ahnung wieder als ein bitteres, schleichendes Ziehen auf. Emilia … Es war nicht gut, dass sie sich hier in diesem Saal befand, sie gehörte nicht hierher.

Reglos stand sie vor ihm, den Blick unter dichten Wimpern ins Leere gerichtet, das Gesicht von schwarzen Locken umhüllt. Ein blasses Gesicht, auf dem ihr Mund, der ihm vor wenigen Tagen noch so sinnlich schien, wie eine harte Knospe lag. Abweisend und vorwurfsvoll. Sie hatte ihre Kindlichkeit verloren.

Ein zartes, lüsternes Rot wanderte hoch in Milenos fahle Wangen. “Was für eine wunderschöne Teufelsbraut”, raunte der Inquisitor. “Bei Gott, was für ein erhabenes Geschöpf. Nicht wahr, il Moro, sie ist wunderschön. Wollt Ihr sie nehmen für eine Nacht? Lasst es lieber bleiben. Sie wird Euch fressen mit Haut und Haar, die Teufelin.” Grimmig, verlangend, wie ein durstiges Raubtier, maß er jede Faser ihres Körpers.

Und Leonardo war es, als spürte er ihre Angst, ihren Ekel.
“Führt die Unholdin wieder hinaus!”, verlangte Mileno plötzlich. “Ich spüre ihn schon, den Teufel in diesem Raum.”

“Mileno”, flüsterte Leonardo. “Habt Ihr je ein Weib gehabt? Mir scheint, Ihr fürchtet Euch davor.”

Mileno warf ihm einen Blick zu, in dem besinnungslose Gier lag und tödlicher Ernst. “Das schöne Weib ist schlecht. Die hässlichen hingegen sollen leben und Männer gebären. Ich habe meine Frau getötet, denn sie war schlecht.”
“Was hat sie getan?”
“Sich an einen Lebemann vergeben – wie Ihr einer seid.” Ein irrsinniger Glanz lag in den Augen des Inquisitors. “Ich habe ihm das Herz aus der Brust reißen lassen nach langer, strenger Folter. Ich ließ es ihr bringen. Doch wisst Ihr, il Moro, Weiber sind undankbar. Sie wollte es einfach nicht annehmen, dabei lag es so schön verpackt in einem weißen Seidentuch. Das liebevolle Geschenk eines gehörnten Gatten. Ihr glaubt nicht, wie sie geschrieen hat.”

Leonardo hielt schaudernd den Atem an.
“Am nächsten Tag war ihre Hinrichtung”, erzählte der Inquisitor weiter. “Ich habe sie noch einmal betrachtet, wie sie auf dem Reisighaufen kniete, gebunden an den Pfahl. Ich wartete auf einen flehenden Blick, doch nichts dergleichen geschah. Sie war tatsächlich des Teufels. Jedes reine Herz hätte noch einmal um Gnade gefleht.”
“Hättet Ihr denn Gnade gewährt?”
“Niemals. Ich lauschte ihren besinnungslosen Schreien und sah ihren Körper zu Asche werden. Es tat mir wohl, ihre Schönheit sterben zu sehen. Denn ihre Schönheit war es, die mir die Hölle bereitete.”
“Habt Ihr sie nicht deswegen zur Frau genommen?”
“Ich verzehrte mich nach ihr, il Moro, das ist wahr. Es war ein reißendes, sinnloses Feuer und die Angst, sie zu verlieren, stärker als alle Leidenschaft.”
“Bis Ihr sie wirklich verloren habt.”
“Ich selbst schmorte im Feuer. Also habe ich sie den Flammen übergeben … Erst dann wuchs meine Seele wieder zusammen. Das ist Gerechtigkeit, findet Ihr nicht?”
“Ihr habt Euch selbst zu einem teuflischen Märtyrer gemacht”, sagte Leonardo. “Sonst nichts.”
“Ihr denkt zu heroisch, Richter il Moro”, antwortete der Inquisitor mit verglasten Augen. “Aber ich bin kein schöner Held wie Ihr.”

“Was hättet Ihr mir damals geraten, Cartagno?”, fragte Mileno heiser.
Cartagno lächelte. “Ein Held hätte sich in Frieden von dem Schmerz befreit und die Sache ein reines Ende gefunden.”
“Vielleicht”, entgegnete Mileno mit düsterem Hohn, “ist es unsere Aufgabe, ein Held zu werden. Loslassen, meint Ihr, vergeben, ein Christus werden – dahin geschwätztes Zeug. Ihr seid ein Philosoph, Cartagno. Und ich verachte Philosophen.”
“Ihr fragtet nach meinem Rat.”
“Was mir geschah, war ein Zeichen Gottes”, wieder glimmte die Verblendung in seinen Augen. “Damit zeigte er mir meine wahre Mission – nämlich den Kampf gegen Ketzerei, Häresie und Hexerei.” Er wandte sich Leonardo zu und fuhr mit kalter Stimme fort. “Ich benötige ein wenig Ruhe nach diesem Schrecken. Es ist immer wieder entsetzlich, dem Teufel ins Gesicht zu sehen. In wenigen Stunden werdet Ihr dieses Weib verhören. Ich werde zuhören und entscheiden.”
“Was werdet Ihr entscheiden?”, fragte Leonardo.
“Ob Ihr diesen Prozess führt oder ich.”

(Auszug aus dem historischen Roman “Pagliaccio” von Regina Maier, München)

 


 

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