Ich bin der Vogel, komm und sei mein Flügel,
dass ich empor zu deinem Himmel schwebe.
Erster Teil
1
Ein weißer Ausflugsdampfer fuhr in der anbrechenden Dämmerung am Bootshaus vorbei nach Norden. Farbige Wimpel hingen über der Reeling, das Deck war mit einem Netz von Lichtern überzogen, und elegante Gäste tanzten zu leiser Musik, die über die Havel wehte. Bald würde der Dampfer das Strandbad Wannsee im Süden Berlins passieren. Er zog verwirbeltes Wasser wie eine leuchtende Spur hinter sich her.
Manuel und seine Freunde winkten dem Dampfer mit Sektgläsern vom Bootssteg des Ruderclubs zu. Für Manuel war es ein Tag des Abschieds und des Aufbruchs. Eine große Reise sollte ihn nach Persien führen. Manuel war fünfundzwanzig Jahre alt, dunkelblond mit braunen Augen, mittelgroß und drahtig, hatte außer seinem Faible für Technik auch einen Sinn für Musik. Er war eher zurückhaltend, kein großer Plauderer, versteckte Unsicherheiten hinter höflichen Umgangsformen und sprach mehrere Sprachen – eine Folge der Sommeraufenthalte bei den Großeltern in Triest.
Im April des Jahres 1929 waren die legendären goldenen 20er-Jahre vorbei, hatten Tanz und Sektlaune einen zweifelhaften Beigeschmack bekommen. Die Zeitungen beschworen täglich ein Panorama aus Arbeitslosigkeit und Inflation. Der Ruderclub im wohlhabenden Süden Berlins wirkte noch wie eine Oase. Hier schien es noch an der Tagesordnung zu sein, tüchtig zu feiern. Die Freunde, eine heitere Gruppe, begossen gleichzeitig den Studienabschluss zweier Juristen. Georg, Rudermeister seines Jahrgangs und Anwaltssohn, hatte die Farben seiner Studentenverbindung angelegt und sich offenbar mit dem Bier übernommen. Möglicherweise in dem Glauben, er gehörte fortan zu den Stützen der Gesellschaft.
Der zweite Kandidat, Ferdinand, hager, strebsam, stand dabei als stiller, lauernder Beobachter.
Zu der Gruppe gehörten weitere junge Männer und natürlich auch vier oder fünf junge Damen.
Darunter Susanne, blond, heiter und unkompliziert, Manuels noch nicht ganz verflossene Jugendliebe. Je mehr sein Lebensziel, die Vision vom Fliegen und der Vorsatz, Pilot zu werden, geworden war, desto weiter hatte er sich von Susanne entfernt. Sie wollte es nicht wahrhaben.
“Ich verstehe dich nicht, Manuel”, Susanne klammerte sich an seinen Arm.
“Wieso willst du denn unbedingt weg?”, Ferdinand suchte ein verborgenes Motiv.
“Von Berlin weg, von uns, den Freunden?”, Georg schwenkte den Bierkrug.
“Ist das nicht sehr gefährlich?”, gab sich Henriette erschreckt.
“Nicht gefährlicher als Segeln oder Schwimmen.”
Einzig die kluge Lotte, sie war nach dem Geschichtsstudium in einer Zeitungsredaktion untergekommen, teilte Manuels Aufbruchsstimmung. “Du musst unbedingt über deine Reise, deine Arbeit berichten.”
“Ich werde brav immer schreiben, sogar telegrafieren.” Manuel genoss es, von den andern bewundert zu werden.
“Als Pilot mit einem Flugzeug der Junkerswerke in Persien zu fliegen, das ist eine elektrisierende Vorstellung. Wenn das kein Abenteuer verspricht und gute Berichte.”
Die Jungs lächelten über Lottes aufgekratzte Laune.
“Die Zukunft liegt hier, bleibe Manuel!”, meinte Georg heiter und mit Überzeugung, “baue Flugzeuge, fliege an den Rhein, nach Paris, bring uns Champagner mit!”
Henriette, mit tiefem Ausschnitt und schwarzroten Lippen, hängte sich bei ihm ein. “Dort gibt es schöne Damen nur im Harem, verboten, bewacht von Selim Bassas. Aber hier …”
Manuel hob sein Glas, um allen zuzuprosten und bedankte sich. “Wisst ihr, es ist wie ein Traum. Ich habe gepackt, morgen geht es los. Ich fühle mich großartig, Jungs, was kost’ die Welt! Ab in den Orient, wie Marco Polo. Eines Tages werde ich über den Atlantik fliegen oder um die ganze Erde. Ich werde euch Flugpost runterwerfen. Europa adieu!”
Susanne blieb still, klammerte sich an Manuel, fühlte sich vernachlässigt und schmollte.
Charleston und Blues verwehten über dem Bootshaus, über dem See, später verloren sich einsame Heroen und schmusende Pärchen auf dem Gelände, langsam verlöschten die Lichter, eins nach dem anderen, als es schon dämmerte.
Die erste Etappe seiner großen Reise führte Manuel nach Dessau, wo er sich bei den Junkerswerken zur Stelle melden sollte. Etwas übernächtigt, aber voller Zuversicht erreichte er pünktlich die Werkspforte. Er war daher völlig überrascht, als ihn ein militärisch wirkender Mann barsch anknurrte: “Werkschutz. Stellen Sie den Koffer ab, nehmen Sie die Arme hoch!” Der Mann filzte ihn routiniert von oben bis unten nach Waffen, ließ sich den Inhalt des Koffers und des Seesacks zeigen.
Manuel protestierte. “Ich werde hier erwartet. Bringen Sie mich zum leitenden Ingenieur!”
“Maul halten! Hier kommt nur der rein, dem ich die Freigabe erteile.”
Der Mann vom Werkschutz fand offenbar nichts, nahm in der Kabine neben der Schranke einen Telefonhörer ab und sagte: “Besuch ist sauber.”
Manuel wurde von einem weiteren Werkschutzmann abgeholt und über das Gelände geführt. Nach wenigen Minuten betrat er durch eine Seitentür eine Montagehalle. Er erblickte als einziges Flugzeug eine Junkers F 13, deren Wellblechverkleidung hell und matt leuchtete. Das sollte seine Maschine werden. Sein Puls ging schneller. Ein Kribbeln lief durch seinen Körper, obwohl er diesen Typ oft geflogen hatte während seiner Ausbildung. Wie viele Maschinen hier wohl schon montiert worden waren, große Maschinen, wie er sie selbst einmal fliegen wollte. Die F 13 war einmotorig, das erste Flugzeug, das speziell für den Passagierflug entwickelt worden war.
Manuel trat näher. Die Maschine war offenbar ziemlich neu. Dürfte wenige Flugstunden auf dem Buckel haben, dachte er. Immer noch war die Tiefdeckerbauweise dieselbe, das freitragende Tragwerk.
Er hörte Schritte und wurde von einem untersetzten Mann in blauem Kittel und mit grauem Bürstenhaarschnitt begrüßt. “Leitender Ingenieur Meyer”, stellte sich der Mann vor. “Sie wollen also unser Schmuckstück entführen? Kommen Sie bitte mit!”
Er führte Manuel zu einem großen Tisch, auf dem großformatige Konstruktionsblätter ausgebreitet lagen. Meyer deutete auf die Befestigungsstellen der Tragflächen. “Wir nehmen die Tragflächen ab, und Sie werden sie wieder zusammensetzen müssen.”
Manuel nickte und lächelte Ingenieur Meyer an. “Aber bitte nicht alleine.”
Meyer schaute ihn kurz an. “Spaßvogel. Nein, der Motor wiegt außerdem auch 290 Kilogramm. Da müssten Sie eine Art Herkules sein, und dafür müssten Sie mächtig wachsen.”
Er zeigte in eine Ecke der Halle. “Dort sind die Holzkisten. Zehn Meter für den Rumpf, neun Meter für die Tragflächen, Holzkeile mit Polstern sind drinnen. Auch die Seitenruder nehmen wir ab. Der Motor kommt extra. Achten Sie immer auf das Wasser für die Kühlung, die Temperaturen sollen hoch sein, also Vorsicht! Auch ölfilter und Kraftstofffilter häufig überprüfen! Habe gehört, es soll Wüsten geben, dort wo Sie fliegen werden. Sand ist ein gefährlicher Stoff für unser Schmuckstück. Und unser Junkersmotor, es ist ein L2, ist das Herz des Ganzen. Sechs Zylinder, 265 PS, Mann, stellen Sie sich das in einem Auto vor!” Meyer schwärmte.
Manuel gab ihm recht. “Aber trotzdem fliege ich lieber.”
Meyer nickte. “Bevor wir uns an die Arbeit machen, möchte Sie der Chef sehen.”
Im Büro des Werkleiters sah sich Manuel einem großen, schlanken Mann gegenüber, der ihm bedeutete, sich zu setzen. Hinter seinem Schreibtisch hing eine Weltkarte, in die lauter kleine Fähnchen gesteckt waren.
“Wir sind überall auf der Welt mit unseren Flugzeugen. Aber in Persien ist es ein wenig kompliziert.”
Aus dem Hintergrund trat in diesem Moment mit knappen Bewegungen ein Mann hinzu. Manuel spürte eine kühle Ausstrahlung. Es mochte ein Offizier in Zivil sein. Er sah irritiert zwischen dem Werkstattleiter und dem Unbekannten hin und her. Der Mann reagierte auf Manuels Blick.
“Sie haben eine Einladung zu einem prächtigen Abenteuer.”
Manuel nickte.
“Aber Sie kennen den Preis noch nicht.”
“Welchen Preis? Ich verstehe nicht.”
“Man hat mir versichert, dass Sie freiwillig und zuverlässig mit uns zusammenarbeiten.”
Manuel fragte zurück “Wer sind Sie? Was soll das bedeuten?”
“Nennen Sie mich Hansen! Ich arbeite für unsere Regierung. Unsere Flugzeuge und Ihre Aufgaben in Persien sind für die anderen interessant. Wir wollen verhindern, dass sie uns übervorteilen.”
“Wer ist daran interessiert? Ich verstehe nicht …”
“Nun, Sie haben den Werkschutz gesehen. Die anderen sitzen schon vor den Toren. Und werden Ihnen vermutlich auf den Fersen sein.”
“Heißt das …?”
“Spionage. Und Abwehr. Sie werden uns dabei helfen.”
Der vorgebliche Hansen zeigte auf de Karte an der Wand. “Sehen Sie, hier im Süden bei Buschir sitzen die Engländer! Ölquellen. Sie werden die Jungs kennenlernen. Hier oben im Norden lauern die Sowjets. Das Kaspische Meer. Die wollen den Handel dominieren. Es gibt Verträge über Transportkapazitäten mit uns. Seien Sie noch vorsichtiger als bei den Engländern! Die Perser stellen sich vor, dass wir eine Art Puffer bilden sollen. Aber nicht Sie persönlich.”
Manuel erhob sich. “Jawohl, ich habe verstanden.”
“Setzen!”, kommandierte der Werksleiter. “Wir wollen unseren geschäftlichen Verpflichtungen nachkommen und sehen, wie sich die Sache entwickelt. Vielleicht können wir bald nach Bagdad und Beirut fliegen. In die Türkei. Sie werden ein Teil dieser Aufgabe.”
“Und wir wollen wissen, was die andern treiben. Sie bekommen eine Fotoausrüstung, mit der Sie aus dem Flugzeug heraus Aufnahmen machen werden. Offiziell Ihr Hobby.”
Der Mann Hansen baute sich vor Manuel auf, straff und selbstsicher, als kommandierte er eine Kompanie Rekruten.
“Sie werden von Fall zu Fall kontaktiert. Kodewort ‚Falke’. Folgen Sie strikt den Anweisungen, keine Eigenmächtigkeiten! Zu niemandem ein Wort! Sollten Sie unterwegs Probleme habe, wenden Sie sich an den diplomatischen Geschäftsträger. Offiziell kennen wir Sie nicht. Aber wir sind immer in Ihrer Nähe. Also dann. Wir zählen auf Sie.” Hansen nickte ihm zu und verschwand durch eine Tür.
Der Werkstattleiter hielt Manuel die Hand hin. “Alles Gute. Unsere F 13 ist eine robuste Maschine. Ihre wurde speziell ausgebaut, für die meisten Zwecke geeignet. Sollte alles klappen. Bringen Sie die F 13 einfach sauber hoch und wieder runter!”
Damit war Manuel entlassen. Das Treffen hatte eine völlig andere Wendung erhalten. So ganz hatte er nicht verstanden, wieso ausgerechnet er Teil des mysteriösen Treibens von Spionage und Abwehr sein sollte. Der Auftritt dieses Hansen hatte eine versteckte Drohung enthalten. Aber ein paar Fotos zu schießen, war nicht viel verlangt, beruhigte sich Manuel. Er war schließlich in erster Linie Pilot und Ingenieur, sollte beim Aufbau einer Fluglinie dabei sein und war bereit, seine ganze Kraft für diese Aufgabe einzusetzen. Mit den Konstrukteuren und ihrem Wissen, diesem Werk im Rücken konnte nichts schiefgehen. Er fühlte sich so straff wie der Werksleiter, fühlte sich dem Ingenieur Meyer verwandt und sich der Gruppe von Männern verbunden, die selbstsicher und siegreich ihren Weg gingen.
Mit Meyer und zwei weiteren Monteuren machte er sich an die Arbeit, um die Tragflächen abzumontieren und das Flugzeug zu verpacken. Im Overall und mit Öl an den Händen war er ganz in seinem Element. Bis zum Abend waren alle gefordert. In der Nacht verließ der Lastwagen das Werk und brachte seine Fracht zum Schiff nach Hamburg.
2
Mit seinem Koffer und einem Seesack saß Manuel am nächsten Morgen in einem Abteil der Eisenbahn Richtung Hamburg. Er hatte das Abteil für sich allein, hatte kaum geschlafen und hing müde am Fenster des Abteils. Persien, das war für ihn eine weit zurück reichende Geschichte.
Als der kleine Manuel im Bett seines Berliner Kinderzimmers lag, erschien eines Abends unerwartet ein nächtlicher Gast, wie einer der Weisen aus dem Morgenland, wie ein Wesir der Phantasie. Schon halb schlafend hatte er ein Flüstern gehört, die Stimmen seiner Mutter und seiner Großmutter vernommen, zugleich auch eine unbekannte Stimme, in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte und die er nicht verstand.
Er war an die Ecke des Salons geschlichen und erblickte der Großmutter gegenüber einen Mann, der einen Turban und ein langes, schimmerndes Gewand aus heller, grauer Seide trug. Sie tranken Tee. Manuel sah wie gebannt zu. Beide führten ein fast stummes Zwiegespräch, eine stockende Unterhaltung aus Gesten, wenigen Worten, die der andere wiederholte, zustimmendem Nicken und einem Lächeln, das Respekt und Zuneigung spüren ließ. Es war, als kannten sie sich aus fernen Zeiten, verfügten über gemeinsame Erlebnisse und Verbindungen. Manuel spürte, obwohl er nichts verstand und nur wenig sah, dass die Großmutter mit dem seltsamen Gast ein Geheimnis teilte.
Der Mann erhob sich und überreichte der Großmutter feierlich ein Geschenk. Es war ein Gegenstand, der in ein grünes Seidentuch eingehüllt war. Manuel brannte vor Neugier. Der fremde Gast blieb nicht lange und verabschiedete sich mit gemessenen Verbeugungen.
Manuel war an jenem Abend wieder unbemerkt ins Bett zurückgeschlichen. Er ließ seine Gedanken hinüber wandern in den Salon, wo jetzt das Geschenk liegen musste. Was konnte das bloß sein? An die Decke und die Wände zauberte die Straßenlaterne flüchtige Schattengebilde, die er mit weit aufgerissenen Augen verfolgte. Er war noch keine acht Jahre und mit den Schatten, weichen und bizarren, bald hellen, bald düsteren Gestalten aus einer unbekannten Welt, begann er, ins Traumreich zu gleiten. Die Zeit schien zu schweben wie eine Vogelfeder weit oben am Himmel.
Am nächsten Tag nutzte Manuel einen Augenblick, an dem er sich unbeobachtet glaubte, entdeckte im Salon das grün verhüllte Bündel, öffnete das Tuch und sah ein großes Buch. Enttäuscht dreht er sich um und lief seiner Großmutter direkt in die Arme.
“Komm her, mein kleiner Prinz!” Sie lachte. “Neugier ist kein Verbrechen”, sagte sie. “Eines Tages, wenn du größer bist, werde ich dir von dem Buch erzählen.”
“Wovon handelt es?”, fragte Manuel.
“Oh”, die Großmutter ließ den Blick aus dem Fenster schweifen als betrachtete sie in ein wundersames Gemälde, “von Vögeln und einer großen Reise.”
“Wohin reisen die Vögel?”, wollte Manuel wissen.
“Sie reisen, um sich selbst zu entdecken.”
Das konnte er nicht verstehen. Seine Großmutter nahm ihn in den Arm und bot ihm ein Stück Konfekt aus der großen Silberschüssel an. Manuel vergaß das Buch. Aber der seltsame Gast hatte in seiner Phantasie ein Fenster geöffnet.
Eines Tages, als er etwas älter war, zeigte ihm die Großmutter das Buch. Manuel erblickte das Abbild eines seltsamen Vogels, der vielfarbig und schillernd wie die Papageien aussah, die er im Zoo gesehen hatte. Gleichzeitig schien der Vogel groß zu sein wie ein Pfau, besaß einen Schnabel und Füße wie ein Adler und Augen, die groß und streng blickten, als verstünden sie die Welt.
Die Großmutter zog ihn zu sich heran und sah ihn aufmerksam an. Sie strich sich die Haare zurecht, als hätte sie noch andere Zuhörer.
“Er ist der König der Vögel. Man nennt ihn den Simorgh, und über ihn werden Geschichten erzählt, die uns bezaubern.”
Und die Großmutter begann, ihm zu erzählen, wie sich die Vögel auf den Weg machten, um den Simorgh zu suchen. Aber Manuel war zu sehr von dem Bild fasziniert, als dass er hätte zuhören können. In Gedanken sah er den Vogel sich erheben, majestätisch fliegen und große Kreise über ihm drehen. Ganz so, als würde er sein Leben beschwören.
Seine Großmutter stammte aus Triest, wo bis zum ersten Weltkrieg das Bild des österreichischen Kaisers in den Amtsstuben hing. Dort wurde auch seine Mutter geboren. Der Großvater war als Diplomat in späteren Jahren nach Berlin versetzt worden. Manuel kam in Berlin zur Welt, sein Vater war preußischer Ingenieur.
“Immanuel”, pflegte der Vater ihn zu ermahnen, “denke stets an unsere Prinzipien! Deren wichtigste ist?” fragte er.
Und Manuel musste antworten: “Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!”
Die Mutter, elegant, mit musischen Interessen, war mehr um seine schulischen Leistungen und die verschmutzten Hosen besorgt. Seine Großmutter dagegen hatte Verständnis dafür, dass er an Abenteuerromanen und Flugzeugen interessiert war.
Als er 10 Jahre alt war, bekam Manuel einen Metallbaukasten, mit dem er den Eiffelturm, Brücken und Phantasiegebilde zusammenschraubte. Vom Weltkrieg bekam er nicht viel mit. Als er 15 war, bastelte er sein erstes Flugzeug. Er hatte gelernt, genau zu sein, zu messen, exakt zu schneiden, zusammenzufügen und die richtigen Werkzeuge geschickt zu verwenden. Er lernte, dass Technik auf sorgfältigem Handwerk fußte und Erfolg sich dann einstellte, wenn eine Vision mit Ziel, Maß, sowie planvoller Beharrlichkeit die Arbeit bestimmte. So hielt er es bei seinen Flugzeugmodellen, und der Erfolg bedeutete, sie fliegen lassen zu können. Das empfand er als Momente des Glücks.
Über die Wiesen am Fluss ließ er das Flugzeugin die Luft steigen, flog dabei selbst über Länder und Kontinente. Er wollte die Welt erkunden und war davon überzeugt, dass die Technik dabei das beste Hilfsmittel sein würde.
Manuel studierte Flugzeugbau. Nach einigen Jahren angestrengten Lernens hatte er nun ein glänzendes Examen als Ingenieur in der Hand, das ihm alle Türen öffnete. Seine zusätzliche Ausbildung als Pilot förderte sein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen und seine praktische Übersicht. Er war mit seinen fünfundzwanzig Jahren noch ein großer Junge und vom Fliegen begeistert.
Eines Tages hatte Manuel von einer Sondermission erfahren. Sein Fluglehrer, den er immer wieder besuchte, hatte ihm davon berichtet. In Persien war ein kleines Flugnetz im Aufbau, und er könnte einer der Pioniere sein. Im Gefühl, dies wäre die langersehnte Gelegenheit, hatte er sich beworben, war zu einer Vorstellung eingeladen worden und hatte wie durch die Fügung des Schicksals die Zusage erhalten.
Schon sah er sich in einem Junkersflugzeug sitzen, selbst am Steuerknüppel und unbekannten Welten entgegenfliegen. Was kam nach dem Horizont? Der Vater sagte, was wir nicht messen können, ist nicht von Belang. Die Mutter sagte, die Welt hinter dem Horizont, das ist eine Sache für den Monsignore. Die Großmutter sagte, der Horizont, das ist etwas für Poesie und Sehnsucht. Er spürte Sehnsucht nach der Ferne, bevor er sie benennen konnte. Was kam nach dem Horizont? Diese Frage stellte er sich auch als Student, nun mit zusätzlichen Bedeutungen: Wird die Luft immer dünner weiter oben am Himmel, gibt es eine Sternenwelt nach der anderen, hat der Himmelsraum keine Grenzen? Ist das die Ewigkeit?
Nun war also in seinem Leben eine Tür geöffnet worden, die ihn als Pilot an den südlichen Himmel, den arabischen, exotischen Himmel führen sollte. Ohne sein Wissen hatte seine Großmutter ein wenig die Fäden gezogen. Sie besaß eine Freundin, die keiner aus der Familie kannte. Diese Freundin war die Frau, mittlerweile die Witwe, eines französischen Konsuls in Persien. Diplomatische Kontakte, Schreiben an die Beamten der Ministerien, eine teure Kiste ausgewählter Zigarren an den Direktor des Flugzeugunternehmens, und Manuel bekam die Chance seines Lebens als Geschenk.
Die Großmutter nahm ihn zum Abschied in den Arm. “Du bist ein Glücksvogel, du darfst fliegen, wo seit Jahrtausenden nur Kamele ihren Weg zogen.”
(Auszug aus dem Roman von Claus Litterscheid, Berlin)
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