Regina Maier: Mord an Roberto

Pagliaccio kicherte leise. Ein gackernder Laut, der einfach aus ihm heraus kroch, und für einen Moment lang standen ihm die Haare zu Berge. Er hatte sich noch nie kichern hören. Nur Geisteskranke kicherten und Missgeburten, die über den Marktplatz tollten … Und wenn schon! Es ist auch wahnsinnig, was du vorhast. Es ist wahnsinnig! Du gehst nicht hinaus in die Nacht, um eine Schenke zu besuchen, um mit einer Hure zu vögeln … , oh nein, ganz und gar nicht … Dir wird warmes Blut ins Gesicht spritzen, mach dich darauf gefasst, damit du nicht schreist …, und denk daran, ihm den Mund zu zuhalten, der Tod hat es nicht immer eilig, vielleicht lässt er sich sogar Zeit … Eigentlich hätte ich es vorher an einem Straßenköter ausprobieren sollen. Mit stierendem Blick kramte er tief in seiner Manuskripttruhe und zog alsbald einen Dolch hervor. Die scharfe Klinge funkelte im Kerzenlicht, sie strahlte Macht aus und Bedrohung. Pagliaccio, von plötzlicher Ehrfurcht überkommen, hielt ihn empor wie der junge König Artus das Schwert Exkalibur. Ich aber bin dein Herr, und du kannst nur töten, wenn ich es will. Jener Dolch gehörte zu den kleinen Geschenken, die er sich ab und zu selbst bereitete. Der Griff bestand aus Holz, er zeigte eine Gestalt mit grimmigen, dämonischen Zügen und einem weisen schweigsamen Mund. Beim Kauf vor drei Jahren hatte ihn dieses Gesicht verzaubert. Er glaubte, dieser Mund würde sein Schweigen bewahren, selbst wenn die Figur zum Leben erwachte. Angeblich stammte das Stück aus Afrika. Als Geistesmensch wusste Pagliaccio nichts Praktisches mit dem Dolch zu beginnen und ließ ihn in der Truhe verschwinden. Weder Roberto noch die übrigen Drei konnten etwas von dessen Existenz ahnen! Und ebenso wenig konnten sie von seinem alten Kittel wissen, den er als Kleinod aufbewahrte. Er trug diesen Kittel auf der Fahrt nach Venedig, nachdem er seine Mutter erlöst hatte. Jetzt legte er diesen Kittel bereit.

Pagliaccio dachte nicht an das Kommende. Er wusste nur, dass es zu vollbringen war. In wenigen Stunden, wenn die Nacht endlich wie Pech über dem Platz der Spielleute lag. Er versuchte, sein ganzes Bewusstsein auf die Tat zu richten, auf jenen Moment, wenn er zustieß. Vergiss die Bilder von spritzendem Blut, von Robertos Händen, die sich wie irrsinnig um deinen Hals krallen … Es sind dumme Hirngespinste, die dich allerhöchstens verderben werden. Du darfst nicht zittern, keinen Fehler machen! Dein Blick, deine Gedanken dürfen nur noch das Ziel kennen. Du musst zur Schlange werden!

*

Es war ganz still bis auf den Ruf eines Nachtvogels. Geflatter, Fledermausflügel vor der hellen Mondsichel. Irgendwo, wahrscheinlich dort draußen im Moor, zirpten Grillen. Die Zelte der Spielleute standen dunkel und stumm, und Pagliaccios Schatten wanderte in dem der Dunkelheit zu Robertos Behausung.
Pagliaccio lauschte, kratzte leise an der Zeltwand. Keine Bewegung, kein Laut. Er kratzte nochmals, etwas deutlicher. Als sich wieder nichts regte, schob er vorsichtig den Zeltspalt beiseite und verhielt geduckt im Eingang. Es war viel zu finster da drin! Doch die Sterne gaben der Nacht genug Licht, und die Zeltwände waren nur aus dünnem Stoff. So wartete er, wagte dabei kaum, zu atmen, bis er sehen konnte. Er versuchte, die Energie im Zelt zu erfassen. War sie diffus oder war sie kompakt? War Roberto überhaupt da? Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie in einem leichten Anflug von Panik. Um den Todgeweihten waberte ein bleiches Zwielicht.
Roberto lag auf dem Rücken. Irrsinnigerweise suchte ihn jetzt ein schlechtes Gewissen heim. Alles schien so einfach zu sein. Wo war der Haken? Stellte sich Roberto nur schlafend? Hatte er das Geräusch an der Zeltwand vernommen? Erwartete er ihn gar? Pagliaccio hielt den Dolch fest umklammert in dem alten Löcherkittel verborgen, spürte kalten Schweiß im Gesicht. Er zwang sich einen kleinen Schritt näher heran, beugte sich herab und fixierte die Züge des einstigen Lehrlings. Der Anblick versetzte ihm einen tiefen Stich. Es war das Gesicht eines Kindes. Schuldlos, wehrlos und engelhaft. Weil dein niederträchtiger Geist gerade auf Traumfahrt ist. Wo schwebt er? Sieht er? Pagliaccio fand, dass Roberto in den letzten Atemzügen seines Lebens schöner wirkte denn je. Du bist kein Kind!, kämpfte er gegen die klagende Stimme in seinem Kopf. Du bist nie ein Kind gewesen! Und seine Augen suchten nach der Stelle, wo das Herz des Jungen schlug.
Mit einem stummen, inneren Schrei griff er nach dem Dolch und stieß ihn in Robertos Brust. Es ist …, dachte er voll triumphalen Grauens, wie wenn man einen Apfel aufspießt. Ich habe … das Kernhaus getroffen. Roberto währenddessen krümmte sich zusammen, seine Hände fuhren zu dem Messer, doch noch ehe er schreien konnte, presste Pagliaccio ihm die Hand auf den Mund.
Roberto starrte ihn an, und er stierte in Robertos Augen. Sie schienen ihm jetzt gleißend hell. Er drückte ihm die Hand stärker auf den Mund, lehnte sich mit ganzer Kraft gegen seinen Körper, ohne den Blick von Robertos Gesicht wenden zu können. Und Roberto starrte … Ein entsetzliches, stummes Schreien. Ja, in diesen Augen war noch Leben. Viel zu viel Leben! “Stirb, Roberto”, flüsterte er heiser, “oh stirb endlich!”

Doch der hartnäckige Knabe, selbst im Erlöschen widerspenstig, wollte einfach nicht. Schrecken, Anklage und ein tiefer Fluch lagen in seinen Augen. Erst nach widerwärtig zähen Momenten ließ die Spannung nach, und er sackte zurück auf das Deckenlager. Röchelnd lag er unter ihm, sein Körper erzitterte ein letztes Mal, dann war es still.

Als Pagliaccio wieder einen Blick in sein Gesicht wagte, waren auch seine Augen finster.
Blut sickerte auf den Erdboden, und er spürte warmes Blut seinen Kittel durchdringen. Versunken in wirrer Gleichgültigkeit, betäubt vom Schrecken über die eigene Tat, blieb Pagliaccio an der Seite des Toten. Er empfand nichts, bereute nicht, er betrachtete nur noch. Robertos vom Entsetzen verzerrte Züge ruhten in dem fahlen Zwielicht. Wie wird dies alles aussehen, dachte er, wenn morgen die Sonne scheint. Nichts wird mehr sein, wie es gestern noch war.

Plötzlich durchdrang ein merkwürdiges Geräusch seine Gedanken. Dabei konnte es doch nur der Wind sein … Wind, der in den Bäumen … Pagliaccio erstarrte zunehmend. Dieses Säuseln klang so menschlich, fast wie ein klagendes Flüstern. Vielleicht war es wirklich nur der Wind, dem sich ein … dem sich dieses Flüstern bemischte: “Was hast du gemacht?” Er war nicht mehr allein in dieser gottverlassenen Nacht! Pagliaccio spürte, dass jenseits der Zeltwand Wehmut herrschte, Trauer, Wut. Und diese schwärende Frage: Was hast du gemacht? Die Stimme verebbte, wurde zu einem erstickten Piepsen. Draußen der schwindende Schatten von einem wehenden Gewand. Existierte es wirklich? Die Nacht, ihre unberechenbaren Schatten, machten ihm Angst. In ihm selbst war es so dunkel. Wo war die Silhouette jetzt? Ein Trugbild seines von Furcht durchtränkten Geistes? Es durfte keine Silhouette geben! Pagliaccio lauerte geraume Zeit in einem Zustand der Lähmung. Er hörte nichts mehr, sah nichts mehr, alles blieb stumm und reglos. Und alles war stumm und reglos. Ich werde dich jetzt alleine lassen, Roberto …, dachte er zitternd, … morgen wird viel Trubel um dich her sein. Wie du es immer wolltest. Mit einer unsagbaren Angst vor der Finsternis schlich er in seine Behausung zurück.

(Auszug aus dem historischen Roman “Pagliaccio” von Regina Maier, München)

 


 

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