Regina Maier: Mord an Roberto

Pagliaccio kicherte leise. Ein gackernder Laut, der einfach aus ihm heraus kroch, und für einen Moment lang standen ihm die Haare zu Berge. Er hatte sich noch nie kichern hören. Nur Geisteskranke kicherten und Missgeburten, die über den Marktplatz tollten … Und wenn schon! Es ist auch wahnsinnig, was du vorhast. Es ist wahnsinnig! Du gehst nicht hinaus in die Nacht, um eine Schenke zu besuchen, um mit einer Hure zu vögeln … , oh nein, ganz und gar nicht … Dir wird warmes Blut ins Gesicht spritzen, mach dich darauf gefasst, damit du nicht schreist …, und denk daran, ihm den Mund zu zuhalten, der Tod hat es nicht immer eilig, vielleicht lässt er sich sogar Zeit … Eigentlich hätte ich es vorher an einem Straßenköter ausprobieren sollen. Mit stierendem Blick kramte er tief in seiner Manuskripttruhe und zog alsbald einen Dolch hervor. Die scharfe Klinge funkelte im Kerzenlicht, sie strahlte Macht aus und Bedrohung. Pagliaccio, von plötzlicher Ehrfurcht überkommen, hielt ihn empor wie der junge König Artus das Schwert Exkalibur. Ich aber bin dein Herr, und du kannst nur töten, wenn ich es will. Jener Dolch gehörte zu den kleinen Geschenken, die er sich ab und zu selbst bereitete. Der Griff bestand aus Holz, er zeigte eine Gestalt mit grimmigen, dämonischen Zügen und einem weisen schweigsamen Mund. Beim Kauf vor drei Jahren hatte ihn dieses Gesicht verzaubert. Er glaubte, dieser Mund würde sein Schweigen bewahren, selbst wenn die Figur zum Leben erwachte. Angeblich stammte das Stück aus Afrika. Als Geistesmensch wusste Pagliaccio nichts Praktisches mit dem Dolch zu beginnen und ließ ihn in der Truhe verschwinden. Weder Roberto noch die übrigen Drei konnten etwas von dessen Existenz ahnen! Und ebenso wenig konnten sie von seinem alten Kittel wissen, den er als Kleinod aufbewahrte. Er trug diesen Kittel auf der Fahrt nach Venedig, nachdem er seine Mutter erlöst hatte. Jetzt legte er diesen Kittel bereit.

Pagliaccio dachte nicht an das Kommende. Er wusste nur, dass es zu vollbringen war. In wenigen Stunden, wenn die Nacht endlich wie Pech über dem Platz der Spielleute lag. Er versuchte, sein ganzes Bewusstsein auf die Tat zu richten, auf jenen Moment, wenn er zustieß. Vergiss die Bilder von spritzendem Blut, von Robertos Händen, die sich wie irrsinnig um deinen Hals krallen … Es sind dumme Hirngespinste, die dich allerhöchstens verderben werden. Du darfst nicht zittern, keinen Fehler machen! Dein Blick, deine Gedanken dürfen nur noch das Ziel kennen. Du musst zur Schlange werden!

*

Es war ganz still bis auf den Ruf eines Nachtvogels. Geflatter, Fledermausflügel vor der hellen Mondsichel. Irgendwo, wahrscheinlich dort draußen im Moor, zirpten Grillen. Die Zelte der Spielleute standen dunkel und stumm, und Pagliaccios Schatten wanderte in dem der Dunkelheit zu Robertos Behausung.
Pagliaccio lauschte, kratzte leise an der Zeltwand. Keine Bewegung, kein Laut. Er kratzte nochmals, etwas deutlicher. Als sich wieder nichts regte, schob er vorsichtig den Zeltspalt beiseite und verhielt geduckt im Eingang. Es war viel zu finster da drin! Doch die Sterne gaben der Nacht genug Licht, und die Zeltwände waren nur aus dünnem Stoff. So wartete er, wagte dabei kaum, zu atmen, bis er sehen konnte. Er versuchte, die Energie im Zelt zu erfassen. War sie diffus oder war sie kompakt? War Roberto überhaupt da? Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie in einem leichten Anflug von Panik. Um den Todgeweihten waberte ein bleiches Zwielicht.
Roberto lag auf dem Rücken. Irrsinnigerweise suchte ihn jetzt ein schlechtes Gewissen heim. Alles schien so einfach zu sein. Wo war der Haken? Stellte sich Roberto nur schlafend? Hatte er das Geräusch an der Zeltwand vernommen? Erwartete er ihn gar? Pagliaccio hielt den Dolch fest umklammert in dem alten Löcherkittel verborgen, spürte kalten Schweiß im Gesicht. Er zwang sich einen kleinen Schritt näher heran, beugte sich herab und fixierte die Züge des einstigen Lehrlings. Der Anblick versetzte ihm einen tiefen Stich. Es war das Gesicht eines Kindes. Schuldlos, wehrlos und engelhaft. Weil dein niederträchtiger Geist gerade auf Traumfahrt ist. Wo schwebt er? Sieht er? Pagliaccio fand, dass Roberto in den letzten Atemzügen seines Lebens schöner wirkte denn je. Du bist kein Kind!, kämpfte er gegen die klagende Stimme in seinem Kopf. Du bist nie ein Kind gewesen! Und seine Augen suchten nach der Stelle, wo das Herz des Jungen schlug.
Mit einem stummen, inneren Schrei griff er nach dem Dolch und stieß ihn in Robertos Brust. Es ist …, dachte er voll triumphalen Grauens, wie wenn man einen Apfel aufspießt. Ich habe … das Kernhaus getroffen. Roberto währenddessen krümmte sich zusammen, seine Hände fuhren zu dem Messer, doch noch ehe er schreien konnte, presste Pagliaccio ihm die Hand auf den Mund.
Roberto starrte ihn an, und er stierte in Robertos Augen. Sie schienen ihm jetzt gleißend hell. Er drückte ihm die Hand stärker auf den Mund, lehnte sich mit ganzer Kraft gegen seinen Körper, ohne den Blick von Robertos Gesicht wenden zu können. Und Roberto starrte … Ein entsetzliches, stummes Schreien. Ja, in diesen Augen war noch Leben. Viel zu viel Leben! “Stirb, Roberto”, flüsterte er heiser, “oh stirb endlich!”

Doch der hartnäckige Knabe, selbst im Erlöschen widerspenstig, wollte einfach nicht. Schrecken, Anklage und ein tiefer Fluch lagen in seinen Augen. Erst nach widerwärtig zähen Momenten ließ die Spannung nach, und er sackte zurück auf das Deckenlager. Röchelnd lag er unter ihm, sein Körper erzitterte ein letztes Mal, dann war es still.

Als Pagliaccio wieder einen Blick in sein Gesicht wagte, waren auch seine Augen finster.
Blut sickerte auf den Erdboden, und er spürte warmes Blut seinen Kittel durchdringen. Versunken in wirrer Gleichgültigkeit, betäubt vom Schrecken über die eigene Tat, blieb Pagliaccio an der Seite des Toten. Er empfand nichts, bereute nicht, er betrachtete nur noch. Robertos vom Entsetzen verzerrte Züge ruhten in dem fahlen Zwielicht. Wie wird dies alles aussehen, dachte er, wenn morgen die Sonne scheint. Nichts wird mehr sein, wie es gestern noch war.

Plötzlich durchdrang ein merkwürdiges Geräusch seine Gedanken. Dabei konnte es doch nur der Wind sein … Wind, der in den Bäumen … Pagliaccio erstarrte zunehmend. Dieses Säuseln klang so menschlich, fast wie ein klagendes Flüstern. Vielleicht war es wirklich nur der Wind, dem sich ein … dem sich dieses Flüstern bemischte: “Was hast du gemacht?” Er war nicht mehr allein in dieser gottverlassenen Nacht! Pagliaccio spürte, dass jenseits der Zeltwand Wehmut herrschte, Trauer, Wut. Und diese schwärende Frage: Was hast du gemacht? Die Stimme verebbte, wurde zu einem erstickten Piepsen. Draußen der schwindende Schatten von einem wehenden Gewand. Existierte es wirklich? Die Nacht, ihre unberechenbaren Schatten, machten ihm Angst. In ihm selbst war es so dunkel. Wo war die Silhouette jetzt? Ein Trugbild seines von Furcht durchtränkten Geistes? Es durfte keine Silhouette geben! Pagliaccio lauerte geraume Zeit in einem Zustand der Lähmung. Er hörte nichts mehr, sah nichts mehr, alles blieb stumm und reglos. Und alles war stumm und reglos. Ich werde dich jetzt alleine lassen, Roberto …, dachte er zitternd, … morgen wird viel Trubel um dich her sein. Wie du es immer wolltest. Mit einer unsagbaren Angst vor der Finsternis schlich er in seine Behausung zurück.

(Auszug aus dem historischen Roman “Pagliaccio” von Regina Maier, München)

 


 

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C. S.: Der Sommer unseres Lebens

“Es ist der Sommer unseres Lebens”, tönte es lautstark aus dem Autoradio, als wir uns vor ein paar Wochen nachts um zwei Uhr auf dem Weg zum Nürnberger Flughafen befanden. Guter Laune und voller Vorfreude auf den bevorstehenden Spanien-Urlaub grölten meine Schwester und ich zu Sebastian Hämers Sommerhit mit und blickten erwartungsvoll zwei Wochen voller Sonne, Strand und Meer entgegen. Es faszinierte mich immer wieder aufs Neue, mich in ein Flugzeug zu setzen und einige Zeit später ein völlig fremdes Land zu entdecken und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur eigenen Lebensweise und Kultur festzustellen.

Nachdem einige Zeit später das Flugzeugprozedere hinter uns lag, kamen wir etwas übermüdet, aber immer noch bester Laune auf dem Flughafen von Malaga an. Dort wurden wir sogleich von einem freundlich dreinblickenden Spanier begrüßt, der uns durch ein Schild mit unserem Namen zu verstehen gab, dass er auf uns wartete. Da es mit seinen Englisch-Kenntnissen nicht weit her war und meine Schwester und ich nur wenige Brocken Spanisch beherrschten, folgten wir dem Spanier schweigend zu seinem kleinen Taxi, welches er vor dem Flughafen geparkt hatte.
Wir befanden uns nur wenige Minuten auf der Fahrt, als plötzlich eine männliche Stimme aus der Funkanlage des Autos uns auf Deutsch begrüßte. Meine Schwester und ich schauten uns verdutzt und fragend an. Doch ehe wir noch darüber nachdenken konnten, was der ominöse Anrufer wohl von uns wollte, hatte dieser uns die bevorstehende Hiobsbotschaft bereits verkündet: “Ich bin der Direktor Ihres Hotels. Leider sind wir überbucht worden. Wir bedauern dies sehr und werden Sie nun in ein anderes Hotel mit freien Zimmern fahren.” Noch ehe meine Schwester oder ich auch nur ein Wort erwidern konnten, hatte der spanische Hoteldirektor bereits aufgelegt.

Na super! Das fing ja schon mal gut an, dachte ich bei mir, und auch meine Schwester machte nun kein allzu glückliches Gesicht mehr. Als wir kurz nach acht morgens dann an unserem neuen Domizil ankamen, waren wir so müde, dass es uns im ersten Moment gar nicht weiter interessierte, wo wir nun die nächsten 14 Tage verbringen würden. Doch auch aus unserem ersehnten Schlaf sollte erst einmal nichts werden.
Die Rezeptionsdame, die glücklicherweise etwas Deutsch sprach, erklärte uns mürrisch, dass wir unser Zimmer frühestens gegen Mittag beziehen könnten.
Also beschlossen meine Schwester und ich, den Strand aufzusuchen, um vielleicht dort das eine oder andere Stündchen Schlaf nachzuholen. Zunächst schien der Plan aufzugehen. Wir ließen unser Gepäck im Hotel und nahmen lediglich eine Badetasche mit an den Strand, der nur wenige Minuten vom Hotel entfernt sein sollte. Nach einer knappen Stunde hatten wir den Strand dann tatsächlich erreicht und entdeckten auch gleich zwei freie Liegestühle. Ohne weiter nachzudenken, schnappten wir uns die beiden Liegen und schliefen kurz darauf auch schon ein. Vermutlich hätten wir den ganzen Mittag dort geschlafen, wenn mich nicht auf einmal ein junger Spanier wachgerüttelt hätte.
Noch völlig verschlafen und verständnislos blickte ich ihn an. Wild gestikulierend versuchte er, mir etwas auf Spanisch mitzuteilen, doch erst nach einiger Zeit begriff ich, was der Gute eigentlich von mir wollte. Die Liegestühle musste man vor Benutzung bezahlen, wie er mir erklärte, indem er auf ein kleines rotes Schild deutete, welches ich zuvor völlig übersehen hatte. Leider stand die Botschaft auch auf Englisch auf dem Schild, sodass ich mich nicht mit Unwissenheit aus der Affäre ziehen konnte. Der Spanier deutete mir mit seinen Fingern an, dass der Preis für einen Liegestuhl acht Euro betrug.
Das sollte wohl ein Witz sein, dachte ich mir und weckte nun auch meine Schwester. Ich erklärte ihr die Situation und fragte sie nach Geld, doch wie hätte es anders sein sollen: Wir hatten auch unsere Geldbeutel im Hotel gelassen. Ich kramte verzweifelt in meiner Badetasche und fand immerhin 2 Euro, die ich dem Spanier reichte.
Dieser schien damit alles andere als zufrieden zu sein und schaute mich und meine Schwester nun finster an. Mit einer Mischung aus Englisch und den wenigen spanischen Vokabeln, die mein Wortschatz besaß, versuchte ich, dem Spanier unser Problem zu erklären. Dabei setzte ich all meinen Charme ein und bemühte mich, ihn mit einem umwerfenden Augenaufschlag zu besänftigen. Doch hier war ich bei ihm anscheinend an der falschen Adresse.
Da er mich nicht verstand, fühlte er sich von meinem Augengezwinker und meinem freundlichen Lachen wohl eher veralbert und starrte mich nun zunehmend böse an.
Inzwischen war auch ich mit meinem Latein am Ende und sah meine Schwester hilflos an.
Diese hatte dann die rettende Idee. Sie wollte zurück zum Hotel gehen und Geld holen. Solange sollte ich sozusagen als Pfand am Strand bleiben und warten, bis sie zurückkam.
Gesagt, getan: Meine Schwester machte sich also auf den Rückweg zu unserem angeblich nur “wenige Minuten” entfernten Hotel, während ich dem immer wütender werdenden Spanier erneut unser Problem schilderte.
Sogar als meine Schwester dann nach zwei Stunden endlich mit dem Geld ankam und unsere Schulden beglich, schien sich der junge Spanier noch immer veräppelt zu fühlen und verlangte einen Aufpreis.
Da wir uns keinen weiteren Ärger einhandeln wollten, zahlten wir ohne Widerrede und machten uns dann gemeinsam auf den Rückweg.

Im Hotel angekommen, durften wir dann auch endlich unser Zimmer begutachten, das glücklicherweise einen positiven Eindruck auf uns machte.
Aber als ich dann im Bad in den Spiegel schaute, kam der nächste Schock. Mein Aussehen glich einer Feuertomate, denn natürlich hatte ich bei unserem kleinen Strandabenteuer die Sonnencreme vergessen, was sich nun als schwerwiegender Fehler erwies. Meine Haut sah regelrecht verbrannt aus, und meine Schwester, die Ärztin ist, verordnete mir sofort kalte Wickel und ein Sonnenverbot für die nächsten Tage.
Schlimmer kann es ja kaum mehr kommen, war ich mir sicher, doch da hatte ich mich gewaltig getäuscht.

Meine Schwester versuchte, mich mit allen Regeln der Kunst aufzumuntern und überredete mich nach dem Abendessen einen kurzen Rundgang durch die Umgebung zu machen. Wir liefen an vielen kleinen Boutiquen vorbei und beschlossen, gleich am nächsten Tag eine Shopping-Tour zu unternehmen. Das hob auch sogleich meine Laune, und ich blickte den kommenden Tagen nun wieder mit etwas mehr Begeisterung entgegen.
Als es langsam dämmerte, setzten wir uns in eine Bar, die direkt am Meer gelegen war und bestellten zwei Cocktails, um auf die nächsten Urlaubstage anzustoßen. Nach dem dritten Cocktail fühlte ich mich recht angeheitert und bereit, über den misslungenen Urlaubsstart hinwegzusehen. Wir genossen die schöne Aussicht und erzählten uns lustige Geschichten aus unserer Kindheit. Kurz nach Mitternacht fing meine Schwester an, zu gähnen, und auch ich war müde von den Erlebnissen des Tages. Wir riefen nach dem Ober, um die Rechnung zu begleichen.
Doch noch ehe der Ober die Rechnung brachte, wurde mir schlagartig bewusst, dass es tatsächlich noch schlimmer kommen konnte. Als ich mich nämlich umdrehte, um meine Tasche zu nehmen, die ich an die Lehne meines Stuhles gehängt hatte, griff ich ins Leere. Erschrocken sprang ich auf und schaute mich verzweifelt suchend nach meiner Tasche um, doch weit und breit keine Spur von ihr. Die Tatsache, dass sowohl meine Schwester als auch ich etwas über unseren Durst getrunken hatten, vereinfachte die Situation in diesem Moment natürlich nicht. Betrunken wie ich war, bot ich den übrigen Gästen wohl einen recht komischen Anblick, wie ich da schwankend im Lokal auf und ab lief und unter jedem Tisch nach meiner Tasche suchte. Doch was die anderen Gäste von mir dachten, kümmerte mich in diesem Augenblick nicht weiter. Schnell wurde mir klar, dass ich meine Sachen wohl nie wieder sehen würde, aber es war jetzt wichtiger, meine Karten und mein Handy sofort sperren zu lassen.
Meine Schwester zahlte die völlig überteuerte Cocktailrechnung und gemeinsam rannten wir zurück zu unserem Hotel. Ich erzählte der Rezeptionsdame von dem Diebstahl und bat sie um Hilfe. Sie machte zwar keinen allzu mitfühlenden Eindruck, aber immerhin half sie mir bereitwillig, die Telefonnummern herauszufinden, die ich für die Kartensperrungen benötigte.
Für mich war der Tag nun endgültig gelaufen, und ich hätte am liebsten sofort die Rückreise angetreten.

Doch glücklicherweise gelang es meiner Schwester, mich innerhalb der nächsten Tage wieder aufzumuntern, sodass es trotz allem noch ein sehr schöner Urlaub wurde. Mein Sonnenbrand war nach wenigen Tagen abgeklungen, und so konnte ich dann doch noch einige schöne Strandtage genießen, diesmal jedoch mit reichlich Sonnencreme. Mein Geld und mein Handy habe ich wie erwartet nie wieder gesehen, aber es hätte alles ja noch viel, viel schlimmer kommen können.

(Reisebericht von C. S.)

 


 

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Claus Litterscheid: Reise zum Simorgh

Ich bin der Vogel, komm und sei mein Flügel,
dass ich empor zu deinem Himmel schwebe.

 

Erster Teil

1

Ein weißer Ausflugsdampfer fuhr in der anbrechenden Dämmerung am Bootshaus vorbei nach Norden. Farbige Wimpel hingen über der Reeling, das Deck war mit einem Netz von Lichtern überzogen, und elegante Gäste tanzten zu leiser Musik, die über die Havel wehte. Bald würde der Dampfer das Strandbad Wannsee im Süden Berlins passieren. Er zog verwirbeltes Wasser wie eine leuchtende Spur hinter sich her.
Manuel und seine Freunde winkten dem Dampfer mit Sektgläsern vom Bootssteg des Ruderclubs zu. Für Manuel war es ein Tag des Abschieds und des Aufbruchs. Eine große Reise sollte ihn nach Persien führen. Manuel war fünfundzwanzig Jahre alt, dunkelblond mit braunen Augen, mittelgroß und drahtig, hatte außer seinem Faible für Technik auch einen Sinn für Musik. Er war eher zurückhaltend, kein großer Plauderer, versteckte Unsicherheiten hinter höflichen Umgangsformen und sprach mehrere Sprachen – eine Folge der Sommeraufenthalte bei den Großeltern in Triest.
Im April des Jahres 1929 waren die legendären goldenen 20er-Jahre vorbei, hatten Tanz und Sektlaune einen zweifelhaften Beigeschmack bekommen. Die Zeitungen beschworen täglich ein Panorama aus Arbeitslosigkeit und Inflation. Der Ruderclub im wohlhabenden Süden Berlins wirkte noch wie eine Oase. Hier schien es noch an der Tagesordnung zu sein, tüchtig zu feiern. Die Freunde, eine heitere Gruppe, begossen gleichzeitig den Studienabschluss zweier Juristen. Georg, Rudermeister seines Jahrgangs und Anwaltssohn, hatte die Farben seiner Studentenverbindung angelegt und sich offenbar mit dem Bier übernommen. Möglicherweise in dem Glauben, er gehörte fortan zu den Stützen der Gesellschaft.
Der zweite Kandidat, Ferdinand, hager, strebsam, stand dabei als stiller, lauernder Beobachter.
Zu der Gruppe gehörten weitere junge Männer und natürlich auch vier oder fünf junge Damen.
Darunter Susanne, blond, heiter und unkompliziert, Manuels noch nicht ganz verflossene Jugendliebe. Je mehr sein Lebensziel, die Vision vom Fliegen und der Vorsatz, Pilot zu werden, geworden war, desto weiter hatte er sich von Susanne entfernt. Sie wollte es nicht wahrhaben.
“Ich verstehe dich nicht, Manuel”, Susanne klammerte sich an seinen Arm.
“Wieso willst du denn unbedingt weg?”, Ferdinand suchte ein verborgenes Motiv.
“Von Berlin weg, von uns, den Freunden?”, Georg schwenkte den Bierkrug.
“Ist das nicht sehr gefährlich?”, gab sich Henriette erschreckt.
“Nicht gefährlicher als Segeln oder Schwimmen.”
Einzig die kluge Lotte, sie war nach dem Geschichtsstudium in einer Zeitungsredaktion untergekommen, teilte Manuels Aufbruchsstimmung. “Du musst unbedingt über deine Reise, deine Arbeit berichten.”
“Ich werde brav immer schreiben, sogar telegrafieren.” Manuel genoss es, von den andern bewundert zu werden.
“Als Pilot mit einem Flugzeug der Junkerswerke in Persien zu fliegen, das ist eine elektrisierende Vorstellung. Wenn das kein Abenteuer verspricht und gute Berichte.”
Die Jungs lächelten über Lottes aufgekratzte Laune.
“Die Zukunft liegt hier, bleibe Manuel!”, meinte Georg heiter und mit Überzeugung, “baue Flugzeuge, fliege an den Rhein, nach Paris, bring uns Champagner mit!”
Henriette, mit tiefem Ausschnitt und schwarzroten Lippen, hängte sich bei ihm ein. “Dort gibt es schöne Damen nur im Harem, verboten, bewacht von Selim Bassas. Aber hier …”
Manuel hob sein Glas, um allen zuzuprosten und bedankte sich. “Wisst ihr, es ist wie ein Traum. Ich habe gepackt, morgen geht es los. Ich fühle mich großartig, Jungs, was kost’ die Welt! Ab in den Orient, wie Marco Polo. Eines Tages werde ich über den Atlantik fliegen oder um die ganze Erde. Ich werde euch Flugpost runterwerfen. Europa adieu!”

Susanne blieb still, klammerte sich an Manuel, fühlte sich vernachlässigt und schmollte.
Charleston und Blues verwehten über dem Bootshaus, über dem See, später verloren sich einsame Heroen und schmusende Pärchen auf dem Gelände, langsam verlöschten die Lichter, eins nach dem anderen, als es schon dämmerte.

Die erste Etappe seiner großen Reise führte Manuel nach Dessau, wo er sich bei den Junkerswerken zur Stelle melden sollte. Etwas übernächtigt, aber voller Zuversicht erreichte er pünktlich die Werkspforte. Er war daher völlig überrascht, als ihn ein militärisch wirkender Mann barsch anknurrte: “Werkschutz. Stellen Sie den Koffer ab, nehmen Sie die Arme hoch!” Der Mann filzte ihn routiniert von oben bis unten nach Waffen, ließ sich den Inhalt des Koffers und des Seesacks zeigen.
Manuel protestierte. “Ich werde hier erwartet. Bringen Sie mich zum leitenden Ingenieur!”
“Maul halten! Hier kommt nur der rein, dem ich die Freigabe erteile.”
Der Mann vom Werkschutz fand offenbar nichts, nahm in der Kabine neben der Schranke einen Telefonhörer ab und sagte: “Besuch ist sauber.”
Manuel wurde von einem weiteren Werkschutzmann abgeholt und über das Gelände geführt. Nach wenigen Minuten betrat er durch eine Seitentür eine Montagehalle. Er erblickte als einziges Flugzeug eine Junkers F 13, deren Wellblechverkleidung hell und matt leuchtete. Das sollte seine Maschine werden. Sein Puls ging schneller. Ein Kribbeln lief durch seinen Körper, obwohl er diesen Typ oft geflogen hatte während seiner Ausbildung. Wie viele Maschinen hier wohl schon montiert worden waren, große Maschinen, wie er sie selbst einmal fliegen wollte. Die F 13 war einmotorig, das erste Flugzeug, das speziell für den Passagierflug entwickelt worden war.
Manuel trat näher. Die Maschine war offenbar ziemlich neu. Dürfte wenige Flugstunden auf dem Buckel haben, dachte er. Immer noch war die Tiefdeckerbauweise dieselbe, das freitragende Tragwerk.
Er hörte Schritte und wurde von einem untersetzten Mann in blauem Kittel und mit grauem Bürstenhaarschnitt begrüßt. “Leitender Ingenieur Meyer”, stellte sich der Mann vor. “Sie wollen also unser Schmuckstück entführen? Kommen Sie bitte mit!”
Er führte Manuel zu einem großen Tisch, auf dem großformatige Konstruktionsblätter ausgebreitet lagen. Meyer deutete auf die Befestigungsstellen der Tragflächen. “Wir nehmen die Tragflächen ab, und Sie werden sie wieder zusammensetzen müssen.”
Manuel nickte und lächelte Ingenieur Meyer an. “Aber bitte nicht alleine.”
Meyer schaute ihn kurz an. “Spaßvogel. Nein, der Motor wiegt außerdem auch 290 Kilogramm. Da müssten Sie eine Art Herkules sein, und dafür müssten Sie mächtig wachsen.”
Er zeigte in eine Ecke der Halle. “Dort sind die Holzkisten. Zehn Meter für den Rumpf, neun Meter für die Tragflächen, Holzkeile mit Polstern sind drinnen. Auch die Seitenruder nehmen wir ab. Der Motor kommt extra. Achten Sie immer auf das Wasser für die Kühlung, die Temperaturen sollen hoch sein, also Vorsicht! Auch ölfilter und Kraftstofffilter häufig überprüfen! Habe gehört, es soll Wüsten geben, dort wo Sie fliegen werden. Sand ist ein gefährlicher Stoff für unser Schmuckstück. Und unser Junkersmotor, es ist ein L2, ist das Herz des Ganzen. Sechs Zylinder, 265 PS, Mann, stellen Sie sich das in einem Auto vor!” Meyer schwärmte.
Manuel gab ihm recht. “Aber trotzdem fliege ich lieber.”
Meyer nickte. “Bevor wir uns an die Arbeit machen, möchte Sie der Chef sehen.”

Im Büro des Werkleiters sah sich Manuel einem großen, schlanken Mann gegenüber, der ihm bedeutete, sich zu setzen. Hinter seinem Schreibtisch hing eine Weltkarte, in die lauter kleine Fähnchen gesteckt waren.
“Wir sind überall auf der Welt mit unseren Flugzeugen. Aber in Persien ist es ein wenig kompliziert.”
Aus dem Hintergrund trat in diesem Moment mit knappen Bewegungen ein Mann hinzu. Manuel spürte eine kühle Ausstrahlung. Es mochte ein Offizier in Zivil sein. Er sah irritiert zwischen dem Werkstattleiter und dem Unbekannten hin und her. Der Mann reagierte auf Manuels Blick.
“Sie haben eine Einladung zu einem prächtigen Abenteuer.”
Manuel nickte.
“Aber Sie kennen den Preis noch nicht.”
“Welchen Preis? Ich verstehe nicht.”
“Man hat mir versichert, dass Sie freiwillig und zuverlässig mit uns zusammenarbeiten.”
Manuel fragte zurück “Wer sind Sie? Was soll das bedeuten?”
“Nennen Sie mich Hansen! Ich arbeite für unsere Regierung. Unsere Flugzeuge und Ihre Aufgaben in Persien sind für die anderen interessant. Wir wollen verhindern, dass sie uns übervorteilen.”
“Wer ist daran interessiert? Ich verstehe nicht …”
“Nun, Sie haben den Werkschutz gesehen. Die anderen sitzen schon vor den Toren. Und werden Ihnen vermutlich auf den Fersen sein.”
“Heißt das …?”
“Spionage. Und Abwehr. Sie werden uns dabei helfen.”
Der vorgebliche Hansen zeigte auf de Karte an der Wand. “Sehen Sie, hier im Süden bei Buschir sitzen die Engländer! Ölquellen. Sie werden die Jungs kennenlernen. Hier oben im Norden lauern die Sowjets. Das Kaspische Meer. Die wollen den Handel dominieren. Es gibt Verträge über Transportkapazitäten mit uns. Seien Sie noch vorsichtiger als bei den Engländern! Die Perser stellen sich vor, dass wir eine Art Puffer bilden sollen. Aber nicht Sie persönlich.”
Manuel erhob sich. “Jawohl, ich habe verstanden.”
“Setzen!”, kommandierte der Werksleiter. “Wir wollen unseren geschäftlichen Verpflichtungen nachkommen und sehen, wie sich die Sache entwickelt. Vielleicht können wir bald nach Bagdad und Beirut fliegen. In die Türkei. Sie werden ein Teil dieser Aufgabe.”
“Und wir wollen wissen, was die andern treiben. Sie bekommen eine Fotoausrüstung, mit der Sie aus dem Flugzeug heraus Aufnahmen machen werden. Offiziell Ihr Hobby.”
Der Mann Hansen baute sich vor Manuel auf, straff und selbstsicher, als kommandierte er eine Kompanie Rekruten.
“Sie werden von Fall zu Fall kontaktiert. Kodewort ‚Falke’. Folgen Sie strikt den Anweisungen, keine Eigenmächtigkeiten! Zu niemandem ein Wort! Sollten Sie unterwegs Probleme habe, wenden Sie sich an den diplomatischen Geschäftsträger. Offiziell kennen wir Sie nicht. Aber wir sind immer in Ihrer Nähe. Also dann. Wir zählen auf Sie.” Hansen nickte ihm zu und verschwand durch eine Tür.
Der Werkstattleiter hielt Manuel die Hand hin. “Alles Gute. Unsere F 13 ist eine robuste Maschine. Ihre wurde speziell ausgebaut, für die meisten Zwecke geeignet. Sollte alles klappen. Bringen Sie die F 13 einfach sauber hoch und wieder runter!”
Damit war Manuel entlassen. Das Treffen hatte eine völlig andere Wendung erhalten. So ganz hatte er nicht verstanden, wieso ausgerechnet er Teil des mysteriösen Treibens von Spionage und Abwehr sein sollte. Der Auftritt dieses Hansen hatte eine versteckte Drohung enthalten. Aber ein paar Fotos zu schießen, war nicht viel verlangt, beruhigte sich Manuel. Er war schließlich in erster Linie Pilot und Ingenieur, sollte beim Aufbau einer Fluglinie dabei sein und war bereit, seine ganze Kraft für diese Aufgabe einzusetzen. Mit den Konstrukteuren und ihrem Wissen, diesem Werk im Rücken konnte nichts schiefgehen. Er fühlte sich so straff wie der Werksleiter, fühlte sich dem Ingenieur Meyer verwandt und sich der Gruppe von Männern verbunden, die selbstsicher und siegreich ihren Weg gingen.
Mit Meyer und zwei weiteren Monteuren machte er sich an die Arbeit, um die Tragflächen abzumontieren und das Flugzeug zu verpacken. Im Overall und mit Öl an den Händen war er ganz in seinem Element. Bis zum Abend waren alle gefordert. In der Nacht verließ der Lastwagen das Werk und brachte seine Fracht zum Schiff nach Hamburg.

 

2

Mit seinem Koffer und einem Seesack saß Manuel am nächsten Morgen in einem Abteil der Eisenbahn Richtung Hamburg. Er hatte das Abteil für sich allein, hatte kaum geschlafen und hing müde am Fenster des Abteils. Persien, das war für ihn eine weit zurück reichende Geschichte.
Als der kleine Manuel im Bett seines Berliner Kinderzimmers lag, erschien eines Abends unerwartet ein nächtlicher Gast, wie einer der Weisen aus dem Morgenland, wie ein Wesir der Phantasie. Schon halb schlafend hatte er ein Flüstern gehört, die Stimmen seiner Mutter und seiner Großmutter vernommen, zugleich auch eine unbekannte Stimme, in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte und die er nicht verstand.
Er war an die Ecke des Salons geschlichen und erblickte der Großmutter gegenüber einen Mann, der einen Turban und ein langes, schimmerndes Gewand aus heller, grauer Seide trug. Sie tranken Tee. Manuel sah wie gebannt zu. Beide führten ein fast stummes Zwiegespräch, eine stockende Unterhaltung aus Gesten, wenigen Worten, die der andere wiederholte, zustimmendem Nicken und einem Lächeln, das Respekt und Zuneigung spüren ließ. Es war, als kannten sie sich aus fernen Zeiten, verfügten über gemeinsame Erlebnisse und Verbindungen. Manuel spürte, obwohl er nichts verstand und nur wenig sah, dass die Großmutter mit dem seltsamen Gast ein Geheimnis teilte.
Der Mann erhob sich und überreichte der Großmutter feierlich ein Geschenk. Es war ein Gegenstand, der in ein grünes Seidentuch eingehüllt war. Manuel brannte vor Neugier. Der fremde Gast blieb nicht lange und verabschiedete sich mit gemessenen Verbeugungen.
Manuel war an jenem Abend wieder unbemerkt ins Bett zurückgeschlichen. Er ließ seine Gedanken hinüber wandern in den Salon, wo jetzt das Geschenk liegen musste. Was konnte das bloß sein? An die Decke und die Wände zauberte die Straßenlaterne flüchtige Schattengebilde, die er mit weit aufgerissenen Augen verfolgte. Er war noch keine acht Jahre und mit den Schatten, weichen und bizarren, bald hellen, bald düsteren Gestalten aus einer unbekannten Welt, begann er, ins Traumreich zu gleiten. Die Zeit schien zu schweben wie eine Vogelfeder weit oben am Himmel.
Am nächsten Tag nutzte Manuel einen Augenblick, an dem er sich unbeobachtet glaubte, entdeckte im Salon das grün verhüllte Bündel, öffnete das Tuch und sah ein großes Buch. Enttäuscht dreht er sich um und lief seiner Großmutter direkt in die Arme.
“Komm her, mein kleiner Prinz!” Sie lachte. “Neugier ist kein Verbrechen”, sagte sie. “Eines Tages, wenn du größer bist, werde ich dir von dem Buch erzählen.”
“Wovon handelt es?”, fragte Manuel.
“Oh”, die Großmutter ließ den Blick aus dem Fenster schweifen als betrachtete sie in ein wundersames Gemälde, “von Vögeln und einer großen Reise.”
“Wohin reisen die Vögel?”, wollte Manuel wissen.
“Sie reisen, um sich selbst zu entdecken.”
Das konnte er nicht verstehen. Seine Großmutter nahm ihn in den Arm und bot ihm ein Stück Konfekt aus der großen Silberschüssel an. Manuel vergaß das Buch. Aber der seltsame Gast hatte in seiner Phantasie ein Fenster geöffnet.
Eines Tages, als er etwas älter war, zeigte ihm die Großmutter das Buch. Manuel erblickte das Abbild eines seltsamen Vogels, der vielfarbig und schillernd wie die Papageien aussah, die er im Zoo gesehen hatte. Gleichzeitig schien der Vogel groß zu sein wie ein Pfau, besaß einen Schnabel und Füße wie ein Adler und Augen, die groß und streng blickten, als verstünden sie die Welt.
Die Großmutter zog ihn zu sich heran und sah ihn aufmerksam an. Sie strich sich die Haare zurecht, als hätte sie noch andere Zuhörer.
“Er ist der König der Vögel. Man nennt ihn den Simorgh, und über ihn werden Geschichten erzählt, die uns bezaubern.”
Und die Großmutter begann, ihm zu erzählen, wie sich die Vögel auf den Weg machten, um den Simorgh zu suchen. Aber Manuel war zu sehr von dem Bild fasziniert, als dass er hätte zuhören können. In Gedanken sah er den Vogel sich erheben, majestätisch fliegen und große Kreise über ihm drehen. Ganz so, als würde er sein Leben beschwören.
Seine Großmutter stammte aus Triest, wo bis zum ersten Weltkrieg das Bild des österreichischen Kaisers in den Amtsstuben hing. Dort wurde auch seine Mutter geboren. Der Großvater war als Diplomat in späteren Jahren nach Berlin versetzt worden. Manuel kam in Berlin zur Welt, sein Vater war preußischer Ingenieur.
“Immanuel”, pflegte der Vater ihn zu ermahnen, “denke stets an unsere Prinzipien! Deren wichtigste ist?” fragte er.
Und Manuel musste antworten: “Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!”
Die Mutter, elegant, mit musischen Interessen, war mehr um seine schulischen Leistungen und die verschmutzten Hosen besorgt. Seine Großmutter dagegen hatte Verständnis dafür, dass er an Abenteuerromanen und Flugzeugen interessiert war.
Als er 10 Jahre alt war, bekam Manuel einen Metallbaukasten, mit dem er den Eiffelturm, Brücken und Phantasiegebilde zusammenschraubte. Vom Weltkrieg bekam er nicht viel mit. Als er 15 war, bastelte er sein erstes Flugzeug. Er hatte gelernt, genau zu sein, zu messen, exakt zu schneiden, zusammenzufügen und die richtigen Werkzeuge geschickt zu verwenden. Er lernte, dass Technik auf sorgfältigem Handwerk fußte und Erfolg sich dann einstellte, wenn eine Vision mit Ziel, Maß, sowie planvoller Beharrlichkeit die Arbeit bestimmte. So hielt er es bei seinen Flugzeugmodellen, und der Erfolg bedeutete, sie fliegen lassen zu können. Das empfand er als Momente des Glücks.
Über die Wiesen am Fluss ließ er das Flugzeugin die Luft steigen, flog dabei selbst über Länder und Kontinente. Er wollte die Welt erkunden und war davon überzeugt, dass die Technik dabei das beste Hilfsmittel sein würde.
Manuel studierte Flugzeugbau. Nach einigen Jahren angestrengten Lernens hatte er nun ein glänzendes Examen als Ingenieur in der Hand, das ihm alle Türen öffnete. Seine zusätzliche Ausbildung als Pilot förderte sein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen und seine praktische Übersicht. Er war mit seinen fünfundzwanzig Jahren noch ein großer Junge und vom Fliegen begeistert.
Eines Tages hatte Manuel von einer Sondermission erfahren. Sein Fluglehrer, den er immer wieder besuchte, hatte ihm davon berichtet. In Persien war ein kleines Flugnetz im Aufbau, und er könnte einer der Pioniere sein. Im Gefühl, dies wäre die langersehnte Gelegenheit, hatte er sich beworben, war zu einer Vorstellung eingeladen worden und hatte wie durch die Fügung des Schicksals die Zusage erhalten.
Schon sah er sich in einem Junkersflugzeug sitzen, selbst am Steuerknüppel und unbekannten Welten entgegenfliegen. Was kam nach dem Horizont? Der Vater sagte, was wir nicht messen können, ist nicht von Belang. Die Mutter sagte, die Welt hinter dem Horizont, das ist eine Sache für den Monsignore. Die Großmutter sagte, der Horizont, das ist etwas für Poesie und Sehnsucht. Er spürte Sehnsucht nach der Ferne, bevor er sie benennen konnte. Was kam nach dem Horizont? Diese Frage stellte er sich auch als Student, nun mit zusätzlichen Bedeutungen: Wird die Luft immer dünner weiter oben am Himmel, gibt es eine Sternenwelt nach der anderen, hat der Himmelsraum keine Grenzen? Ist das die Ewigkeit?
Nun war also in seinem Leben eine Tür geöffnet worden, die ihn als Pilot an den südlichen Himmel, den arabischen, exotischen Himmel führen sollte. Ohne sein Wissen hatte seine Großmutter ein wenig die Fäden gezogen. Sie besaß eine Freundin, die keiner aus der Familie kannte. Diese Freundin war die Frau, mittlerweile die Witwe, eines französischen Konsuls in Persien. Diplomatische Kontakte, Schreiben an die Beamten der Ministerien, eine teure Kiste ausgewählter Zigarren an den Direktor des Flugzeugunternehmens, und Manuel bekam die Chance seines Lebens als Geschenk.
Die Großmutter nahm ihn zum Abschied in den Arm. “Du bist ein Glücksvogel, du darfst fliegen, wo seit Jahrtausenden nur Kamele ihren Weg zogen.”

(Auszug aus dem Roman von Claus Litterscheid, Berlin)

 


 

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Regina Maier: Der Inquisitor, Leonardo und Emilia

Zwei Soldaten führten Emilia in die Mitte des Gerichtssaals. Ihre feine, in einfaches Leinen gekleidete Gestalt wandelte zwischen ihnen wie ein Luftgeist. Im Gerichtssaal regte sich nichts mehr. Selbst das Getrappel der Ratten hinter der Wandvertäfelung verstummte. Nur die Staubkörner tanzten auf den Sonnenstrahlen, und Emilia stand inmitten dieses Nebels aus Staub und Sonnenlicht.

“Schließt die Fensterläden!”, ordnete Leonardo an. “Es ist zu viel Licht hier drin.” Er wartete, bis ein Schatten über Emilias Gestalt fiel und betrachtete sie schweigend. Ein Richter, schließlich, hatte die Angeklagte zu durchdringen. Gleichermaßen aber empfand er das unheimliche Gefühl, als ob der Inquisitor ihn durchdrang. Machst du auch alles richtig? So, wie ich es will? Wie leicht war es ihm gefallen bei all jenen Verbrechern, auf deren groben Mienen falsche Reue lag. In Gedanken hörte er den Klang seiner eigenen Stimme, während er das Todesurteil sprach, spürte diese merkwürdige Faszination, wenn die Botschaft mit jedem Wort endgültiger wurde. Dann entdeckte er das Entsetzen in ihren Gesichtern, die abgründige Angst vor dem Tode, und jedes Mal stahl sich eine Ahnung in sein Bewusstsein, was Leiden bedeutete. Er würgte es hinunter. Doch jetzt tauchte diese Ahnung wieder als ein bitteres, schleichendes Ziehen auf. Emilia … Es war nicht gut, dass sie sich hier in diesem Saal befand, sie gehörte nicht hierher.

Reglos stand sie vor ihm, den Blick unter dichten Wimpern ins Leere gerichtet, das Gesicht von schwarzen Locken umhüllt. Ein blasses Gesicht, auf dem ihr Mund, der ihm vor wenigen Tagen noch so sinnlich schien, wie eine harte Knospe lag. Abweisend und vorwurfsvoll. Sie hatte ihre Kindlichkeit verloren.

Ein zartes, lüsternes Rot wanderte hoch in Milenos fahle Wangen. “Was für eine wunderschöne Teufelsbraut”, raunte der Inquisitor. “Bei Gott, was für ein erhabenes Geschöpf. Nicht wahr, il Moro, sie ist wunderschön. Wollt Ihr sie nehmen für eine Nacht? Lasst es lieber bleiben. Sie wird Euch fressen mit Haut und Haar, die Teufelin.” Grimmig, verlangend, wie ein durstiges Raubtier, maß er jede Faser ihres Körpers.

Und Leonardo war es, als spürte er ihre Angst, ihren Ekel.
“Führt die Unholdin wieder hinaus!”, verlangte Mileno plötzlich. “Ich spüre ihn schon, den Teufel in diesem Raum.”

“Mileno”, flüsterte Leonardo. “Habt Ihr je ein Weib gehabt? Mir scheint, Ihr fürchtet Euch davor.”

Mileno warf ihm einen Blick zu, in dem besinnungslose Gier lag und tödlicher Ernst. “Das schöne Weib ist schlecht. Die hässlichen hingegen sollen leben und Männer gebären. Ich habe meine Frau getötet, denn sie war schlecht.”
“Was hat sie getan?”
“Sich an einen Lebemann vergeben – wie Ihr einer seid.” Ein irrsinniger Glanz lag in den Augen des Inquisitors. “Ich habe ihm das Herz aus der Brust reißen lassen nach langer, strenger Folter. Ich ließ es ihr bringen. Doch wisst Ihr, il Moro, Weiber sind undankbar. Sie wollte es einfach nicht annehmen, dabei lag es so schön verpackt in einem weißen Seidentuch. Das liebevolle Geschenk eines gehörnten Gatten. Ihr glaubt nicht, wie sie geschrieen hat.”

Leonardo hielt schaudernd den Atem an.
“Am nächsten Tag war ihre Hinrichtung”, erzählte der Inquisitor weiter. “Ich habe sie noch einmal betrachtet, wie sie auf dem Reisighaufen kniete, gebunden an den Pfahl. Ich wartete auf einen flehenden Blick, doch nichts dergleichen geschah. Sie war tatsächlich des Teufels. Jedes reine Herz hätte noch einmal um Gnade gefleht.”
“Hättet Ihr denn Gnade gewährt?”
“Niemals. Ich lauschte ihren besinnungslosen Schreien und sah ihren Körper zu Asche werden. Es tat mir wohl, ihre Schönheit sterben zu sehen. Denn ihre Schönheit war es, die mir die Hölle bereitete.”
“Habt Ihr sie nicht deswegen zur Frau genommen?”
“Ich verzehrte mich nach ihr, il Moro, das ist wahr. Es war ein reißendes, sinnloses Feuer und die Angst, sie zu verlieren, stärker als alle Leidenschaft.”
“Bis Ihr sie wirklich verloren habt.”
“Ich selbst schmorte im Feuer. Also habe ich sie den Flammen übergeben … Erst dann wuchs meine Seele wieder zusammen. Das ist Gerechtigkeit, findet Ihr nicht?”
“Ihr habt Euch selbst zu einem teuflischen Märtyrer gemacht”, sagte Leonardo. “Sonst nichts.”
“Ihr denkt zu heroisch, Richter il Moro”, antwortete der Inquisitor mit verglasten Augen. “Aber ich bin kein schöner Held wie Ihr.”

“Was hättet Ihr mir damals geraten, Cartagno?”, fragte Mileno heiser.
Cartagno lächelte. “Ein Held hätte sich in Frieden von dem Schmerz befreit und die Sache ein reines Ende gefunden.”
“Vielleicht”, entgegnete Mileno mit düsterem Hohn, “ist es unsere Aufgabe, ein Held zu werden. Loslassen, meint Ihr, vergeben, ein Christus werden – dahin geschwätztes Zeug. Ihr seid ein Philosoph, Cartagno. Und ich verachte Philosophen.”
“Ihr fragtet nach meinem Rat.”
“Was mir geschah, war ein Zeichen Gottes”, wieder glimmte die Verblendung in seinen Augen. “Damit zeigte er mir meine wahre Mission – nämlich den Kampf gegen Ketzerei, Häresie und Hexerei.” Er wandte sich Leonardo zu und fuhr mit kalter Stimme fort. “Ich benötige ein wenig Ruhe nach diesem Schrecken. Es ist immer wieder entsetzlich, dem Teufel ins Gesicht zu sehen. In wenigen Stunden werdet Ihr dieses Weib verhören. Ich werde zuhören und entscheiden.”
“Was werdet Ihr entscheiden?”, fragte Leonardo.
“Ob Ihr diesen Prozess führt oder ich.”

(Auszug aus dem historischen Roman “Pagliaccio” von Regina Maier, München)

 


 

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C. S.: Wenn Liebe krank macht

1

Als sie langsam wieder zu sich kam und die Augen öffnete, war sie alleine. Ihr Blick wanderte durch einen dunklen, kahlen Raum, der eine unangenehme Mischung aus Angst und Leere in ihr auslöste. An ihrem rechten Oberarm spürte sie plötzlich einen zunehmenden Druck, der von einem leisen Brummen begleitet wurde, und sie ertastete mit den Fingern das Band eines Blutdruckmessgerätes. Ihr Blick fiel nun auf den Infusionsbeutel, der neben dem Bett, auf dem sie lag, an einem Ständer hing und von welchem ein dünner Schlauch zu ihrem Handgelenk führte. Inzwischen hatte sich auch ihr rechter Fuß bemerkbar gemacht, der immer stärker zu pochen begann. Neugierig nach der Ursache suchend versuchte sie, sich mit beiden Ellenbogen abzustützen, um ihren Kopf vorsichtig nach vorne zu beugen. Doch in diesem Moment setzte ein weitaus heftigeres Pochen seitlich ihres Schädels ein, und sie sank erschöpft wieder auf ihr Kopfkissen zurück. Was war mit ihr geschehen und wo um alles in der Welt war Michael? Sie bemühte sich krampfhaft, sich an etwas zu erinnern, was ihr Aufschluss geben könnte, doch in ihrem Kopf herrschte nichts als Leere. Aber sie musste sich doch an etwas erinnern können, sie musste einfach wissen, ob es Michael gut ging. Ihre Kopfschmerzen stiegen ins Unerträgliche, und mittlerweile wurde aus dem anfänglich leichten Pochen ihres Beines ein heftiges Ziehen. Wieso kam denn auch niemand und klärte sie auf? Sie lag hier doch offensichtlich in einem Krankenhaus. Ob es die Intensivstation war, vermochte sie nicht, zu beurteilen, wenngleich sie es nicht annahm. Sie musste einen Unfall gehabt haben, anders konnte sie es sich nicht erklären. Aber was war geschehen? Am meisten quälte Lara jedoch die Frage, ob Michael in diesen Unfall verwickelt worden war?
Diese Gedanken machten sie wahnsinnig, sie wollte endlich Gewissheit haben. Doch als sie den Mund öffnete, um nach einer Schwester zu rufen, war außer einem leisen Krächzen nichts zu vernehmen. Sie versuchte erneut, sich aufzurichten, aber diesmal straften sie ihre Kopfschmerzen noch mehr als beim ersten Mal, und sie gab es verzweifelt auf. Irgendwann würde schon eine Schwester oder ein Arzt ihr Zimmer betreten, um nach dem Rechten zu sehen. In diesem Moment fiel ihr Blick auf die kleine Fernbedienung mit dem roten Knopf, die auf dem unmittelbar neben ihrem Bett stehenden Nachtisch lag. Vorsichtig, um ruckartige Bewegungen zu vermeiden, tastete sie mit den Fingern nach dem kleinen Apparat. Sie drückte mehrmals auf den roten Knopf und wartete ungeduldig, bis endlich eine junge Nachtschwester ihren Kopf durch die Tür steckte und sie besorgt anblickte.
“Sie sind aufgewacht, Frau Neumann. Wie fühlen Sie sich?”
“Es geht”, krächzte Lara und wollte nun endlich all die quälenden Fragen loswerden, doch ärgerlicherweise kamen aus ihrem Mund nur unverständliche Wortbrocken.
“Sie hatten einen Autounfall, aber glücklicherweise hatten Sie einen guten Schutzengel. Der Arzt wird Ihnen morgen früh den genauen Befund mitteilen. Versuchen Sie jetzt, noch etwas zu schlafen!”
Lara wollte sich nach Michael erkundigen, doch sie sah ein, dass es in diesem Augenblick keinen Sinn machte.
Die Nachtschwester flößte ihr etwas Wasser in ihren trockenen Mund und gab ihr eine Spritze in den linken Unterarm. Daraufhin verschwand sie ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer. Das Schmerzmittel zeigte rasch seine Wirkung, denn kaum ließen die Schmerzen in ihrem Kopf etwas nach, überkam Lara eine ungeheure Müdigkeit, und sie schloss die Augen in der Hoffnung, bei ihrem nächsten Erwachen Näheres zu erfahren.

 

2

Sie waren auf einer Party von Michaels bestem Freund Klaus eingeladen. Schon seit ein paar Tagen fühlte sich Lara nicht wohl und auch an diesem Abend war ihr furchtbar übel. Vermutlich hatte sie sich bei ihrer Mutter angesteckt, die mit einer Magen-Darm-Grippe im Bett lag. Es war kurz nach Mitternacht, als sie nach der Party Richtung Konstanz aufbrachen. Michael wäre gerne noch länger geblieben, das merkte sie nur zu deutlich an seinem Verhalten. Einem Außenstehenden wäre dies kaum aufgefallen, denn in seiner Gestik und Mimik lag nicht der Hauch einer Verstimmung, doch Lara kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er seinen Ärger nur geschickt zu überspielen vermochte.
“Es tut mir leid, aber mir ist wirklich nicht gut, Michael.”
“Gar kein Problem, mein Schatz. Die nächste Party kommt sicher bald”, erwiderte Michael mit einem gequälten Lächeln und strich ihr kurz mit zwei Fingern über die Wange, ohne ihr dabei in die Augen zu schauen.
“Weißt du was, du bleibst einfach noch, und ich rufe mir ein Taxi. Ich weiß doch, wie gerne du noch etwas mit den anderen feiern würdest.”
“Danke für das Angebot, Schatz. Aber ich habe schon zu viel getrunken, um noch Auto zu fahren, außerdem haben wir uns jetzt ja schon verabschiedet. Wie würde das denn aussehen, wenn ich wieder dort auftauchen würde.”
Das war typisch Michael, immer besorgt um seinen guten Ruf. Er machte sich ständig Gedanken, was andere von ihm hielten und war stets darauf bedacht, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Zu Anfang hatte Lara es als einen durchaus positiven Zug betrachtet, doch mit der Zeit kamen ihr diesbezüglich Zweifel. Auch kannte sie Michael zu gut, um zu wissen, dass jegliche weitere Diskussion die Sache nur noch verschlimmert hätte.
“Gut, dann lass uns fahren! Gibst du mir bitte den Schlüssel?”
Michael reichte ihr den Schlüssel, setzte sich wortlos neben sie auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. Dann hatte er das Radio für ihre Verhältnisse viel zu laut aufgedreht, und schweigend waren sie die verlassenen Straßen der kleinen Ortschaft, in der Klaus wohnte, entlanggefahren. Obwohl Lara die Gegend am Bodensee seit ihrer Kindheit kannte, konzentrierte sie sich genau auf die Straße, da sie wegen ihrer fehlenden Fahrpraxis keine sonderlich routinierte Fahrerin war. Michael dagegen war ein sehr guter Autofahrer und hatte die letzten zwei Jahre hart gearbeitet, um sich einen kleinen Gebrauchtwagen leisten zu können. Er bot ihr oft an, sie fahren zu lassen, aber wie bei vielen Paaren, bekamen sie beim Autofahren, wenn Lara am Steuer saß, ständig Streit, da er ihre vorsichtige Fahrweise kritisierte. Aus diesem Grund kam es nur in sehr seltenen Fällen, so wie in dieser Nacht, dazu, dass tatsächlich sie auf dem Fahrersitz landete.
Michael schien tief in seine Gedanken versunken und beachtete Laras Fahrstil kaum, was sie erleichtert feststellte und nun mit weniger Anspannung durch die Dunkelheit fuhr. Sie überquerten eine kleine Brücke und bogen dann in eine Landstraße ein, die durch ein vereinsamtes Waldgebiet führte. Um Michael nicht unnötig zu verärgern, stellte sie den Tempomatregler auf 100km/ h – die zulässige Höchstgeschwindigkeit. Sie dachte gerade darüber nach, gleich am nächsten Tag ihren Hausarzt aufzusuchen und sich ein Rezept gegen ihre Magenprobleme verschreiben zu lassen, als es auf einmal wie verrückt in ihren Bauch stach, sodass ihr vor Schmerzen Tränen in die Augen schossen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie nur ein verschwommenes Bild der vor ihr liegenden Landstraße. Dann ging alles auf einmal ganz schnell. Als ihr Blick wieder klar wurde, erkannte sie einen Hirsch, der urplötzlich aus dem umliegenden Waldstück auf die Straße gerannt kam. Michael hatte ihn im gleichen Moment entdeckt, doch ehe er etwas sagen konnte, hatte Lara panisch das Lenkrad zur Seite gerissen. Sie drückte mit aller Kraft auf die Bremse, doch die Geschwindigkeit war zu hoch gewesen, um den harten Aufprall zu verhindern. Das Auto war mit einem gewaltigen Donnern gegen die Leitplanke der gegenüberliegenden Straßenseite geknallt. Sie spürte einen höllischen Kopfdruck und hörte ein lautes Aufschreien.
In diesem Moment schlug sie die Augen auf und starrte in die erschrockenen Augen ihrer Mutter.
“Lara, wach auf! Es ist alles in Ordnung. Du hast überlebt, mein Schatz. Ich bin ja bei dir.”
Sie hatte nur geträumt, aber der Traum war ihr so real vorgekommen. Im gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass es kein Traum gewesen war. Sie hatte einen Unfall gebaut mit Michaels neu gekauftem Auto. Das würde er ihr nie verzeihen. Wo war er überhaupt? Er hatte neben ihr gesessen, aber sie konnte sich nicht mehr darin erinnern, was mit ihm nach dem Aufprall passiert war. Ihr Kopf musste gegen das Armaturenbrett geknallt sein, und dann war sie vermutlich bewusstlos geworden. Aber was um Himmelswillen war mit Michael geschehen?
“Mama, wo ist Michi?”, kam es krächzend aus ihrem Mund.
“Mach dir keine Sorgen, Larissa! Du musst jetzt erstmal wieder auf die Beine kommen. Du hattest solches Glück, mein Engel! Der Arzt wird gleich kommen und dich genau untersuchen.”
“Ist er tot?”, schrie sie mit all ihrer verbleibenden Kraft und schaute ihrer Mutter voller Angst in die Augen.
“Nein, mein Schatz, aber es hat ihn schlimmer erwischt als dich. Er liegt derzeit im Koma auf der Intensivstation, aber ich bin mir sicher, dass er durchkommen wird. Er ist doch ein Kämpfer. Und jetzt geht es erst einmal darum, dass du wieder gesund wirst.”
Das sah sie ganz und gar nicht so. Ihre eigene Gesundheit war ihr in diesem Moment völlig gleichgültig, das Einzige, was sie interessierte war Michaels Zustand. Wieso hatte es ihn schlimmer erwischt als sie? Das durfte nicht so sein, schließlich hatte sie den Unfall verursacht. Es war ihre Schuld gewesen. Warum hatte sie nur so panisch reagiert? Sie hätte einfach abbremsen sollen, anstatt gegenzulenken. Bei einem Zusammenprall mit dem Hirsch wäre alles vielleicht nicht so schlimm gekommen. Und wieso hatte sie den Hirsch nur so spät bemerkt? Ja, da war es wieder, diese Übelkeit, auch jetzt spürte sie den Drang, sich zu übergeben wieder ganz deutlich. Sie schloss die Augen erneut, um mit aller Kraft gegen das Übelkeitsgefühl anzukämpfen, aber es gelang ihr nicht.
Ihre Mutter bemerkte ihr Würgen und reichte ihr den unter ihrem Bett stehenden Nachttopf. Es gelang ihr kaum, sich nach vorne zu beugen, um sich zu übergeben, denn ihr Kopf fühlte sich bei jeder Bewegung an, als ob er im nächsten Augenblick platzen würde.
Kurz darauf ging die Tür auf und ein junger Arzt betrat das Zimmer. Er gab zunächst ihrer Mutter die Hand und sah dann mit besorgtem Blick zu Lara, die inzwischen wieder erschöpft in ihr Kopfkissen zurückgesunken war und beide Hände sanft auf ihren Bauch drückte.
“Wie geht es Ihnen, Frau Neumann? Haben Sie große Schmerzen?”
Lara, die immer noch nicht mehr als ein Krächzen hervorbrachte, schüttelte leicht den Kopf. “Mir ist etwas übel, und mein Kopf tut sehr weh.”
Der junge Arzt nickte, als ob er mit ihrer Antwort gerechnet hätte und wandte sich dann wieder Laras Mutter zu.
“Würden Sie bitte einen Moment draußen warten, ich möchte kurz mit Ihrer Tochter sprechen.”
Laras Mutter schaute den Arzt verwundert an, folgte seiner Anordnung jedoch, ohne weiter nachzufragen, und verließ das Zimmer.
Lara sah den jungen Mann fragend an, denn sie verstand ebenso wenig wie ihre Mutter, warum diese das Zimmer verlassen sollte.
“Frau Neumann, ich wollte Ihnen das Ergebnis unserer Untersuchungen mitteilen. Zunächst einmal, was Ihren Unfall betrifft, haben Sie Glück gehabt. Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung und ein verstauchtes Bein, aber weder Brüche noch andere Prellungen. Einige Tage Bettruhe, und Sie sind wieder fit.”
Er schaute sie aufmunternd an, aber Lara spürte, dass er ihr noch etwas zu sagen hatte und wartete darauf, dass er weitersprach.
“Außerdem kam bei unserer Untersuchung noch etwas heraus, was Sie vielleicht noch gar nicht wissen. Sie sind schwanger, Frau Neumann. Ich dachte, ich teile Ihnen dies erst einmal unter vier Augen mit.”
Lara hatte das Gefühl, den Arzt nicht richtig verstanden zu haben. Sie sollte schwanger sein? Das konnte gar nicht sein, sie und Michael hatten doch immer aufgepasst. Wie konnte das möglich sein? In ihrem Kopf drehte sich nun alles, tausend Fragen, die sie sich gleichzeitig stellte und auf die sie keine Antwort fand, schwirrten durcheinander.
Der Arzt, der Lara aufmerksam beobachtet hatte, merkte, wie sehr sie die Neuigkeit verwirrte. “Ich lasse Sie jetzt etwas alleine und sorge dafür, dass Sie vorerst nicht gestört werden, wenn es Ihnen recht ist.”
Sie wollte ihn noch so vieles fragen, in welcher Woche sie schwanger war, ob er wusste, wie es um Michael stand, aber sie brachte kein weiteres Wort hervor.
Der Arzt, der ihr Schweigen als Zustimmung wertete, nickte ihr noch einmal freundlich zu, verschwand dann leise aus dem Zimmer und ließ Lara mit ihrem Gefühlschaos alleine.
Die folgenden Stunden lag sie fast regungslos auf ihrem Bett, starrte die kahlen weißen Wände ihres Zimmers an und versuchte, ihre Gedanken etwas zu ordnen. In den letzten Stunden war so viel geschehen, was ihr bisheriges Leben grundlegend verändert hatte und noch weiter verändern würde. Der wichtigste Mensch in ihrem Leben lag irgendwo auf der Intensivstation und schwebte vielleicht in Lebensgefahr, und sie alleine hatte an seinem Zustand schuld. Aber das Schlimmste war, dass sie noch nicht einmal zu ihm konnte, geschweige denn, sich nach ihm erkundigen, da ihre Stimme jedes Mal jämmerlich versagte. Und jetzt hatte sie zu allem Übel noch erfahren, dass sie schwanger war. Einen ungünstigeren Zeitpunkt dafür gab es ja wohl kaum. Es kam Lara so vor, als ob ihr ganzes Leben, all ihre Träume, Wünsche und Hoffnungen, mit einem Schlag zerstört wurden und sie dabei machtlos zusehen musste.
In diesem Moment klopfte es energisch an die Tür und ein ältlich aussehender Polizist betrat ihr Zimmer. “Guten Tag! Mein Name ist Weber. Man hat mir gesagt, dass Sie hier liegen, Frau Neumann. Ich bin gekommen, um Ihnen ein paar Fragen zum Unfallhergang zu stellen.”
Lara sank noch tiefer auf ihr Kopfkissen zurück. Auch das noch! War der Tag bisher nicht schon schlimm genug gewesen? Jetzt musste sie sich auch noch vor dem Polizisten rechtfertigen, der alles andere als einen sympathischen Eindruck bei ihr hinterließ.
Ohne eine Miene zu verziehen, hatte er ein Unfallprotokoll und einen Bleistift aus seiner Tasche gezogen und sie mit einem eindringlichen Blick gemustert, so als hätte er sie bereits als schuldige Unfallverursacherin entlarvt.
Lara lief ein kalter Schauer über den Rücken bei dem Gedanken, diesem Mann den ganzen Unfallhergang immer wieder und wieder beschreiben zu müssen, bis er endlich Ruhe gab. Zum Glück merkte dieser bald, dass es nicht viel Sinn machte, Lara Fragen, die einer ausführlichen Antwort bedurften, zu stellen, da er ihr Krächzen kaum verstand.
“Das bringt uns so wohl nicht weiter, Frau Neumann. Melden Sie sich bitte auf dem Polizeirevier, sobald es Ihnen und Ihrer Stimme besser geht.” Auf einmal schoben sich seine Mundwinkel beinahe unmerklich leicht nach oben, und ein kleines, kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über sein Gesicht.
“Und schauen Sie mich nicht so ängstlich an, ich will Ihnen ja nichts Böses! Das Protokoll dient ja nur der Aufklärung des Unfalls. Ich wünsche Ihnen gute Besserung!”
“Danke”, krächzte Lara deutlich erleichtert darüber, dass ihr Verhör erst einmal auf unbegrenzte Zeit verschoben wurde. Doch kaum hatte Herr Weber die Tür hinter sich geschlossen, fiel ihr die Nachricht ihrer Schwangerschaft, die sie für einige Minuten erfolgreich verdrängt hatte, wieder ein, und Tränen schossen ihr ins Gesicht. Lara konnte sich nicht erinnern, schon einmal so verzweifelt gewesen zu sein.

 

3

Zwei Wochen später wurde Lara endlich aus dem Krankenhaus entlassen, mit der strengen Anordnung, weiterhin viel zu liegen und alles sehr gemächlich und ruhig angehen zu lassen. Doch nun, als sich ihre Stimme wieder erholt hatte und sie endlich auch kleinere Spaziergänge machen durfte, konnte sie keiner mehr davon abhalten, Michael zu besuchen.
Von Michaels Mutter, die ihr des Öfteren kleine Besuche abgestattet hatte, war sie über seinen Zustand genau informiert worden, was ihr allerdings kaum Grund zur Freude bereitete. Michael schwebte zwar nicht mehr in Lebensgefahr und war von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt worden, jedoch lag er nach wie vor im Koma.

Noch nie in ihrem Leben hatte sich Lara so alleine und verlassen gefühlt. Auch wenn sie sich oft mit Michael gestritten hatte und ihre Beziehung nicht immer ganz harmonisch gewesen war, hatte er in ihrem Leben doch einen ganz entscheidenden Platz eingenommen. Das wurde Lara in diesem Moment noch stärker als je zuvor bewusst. Sie fühlte sich vollkommen hilflos ohne ihn. Seit sie zusammen waren, hatten sie wichtige Entscheidungen, in Bezug auf ihre Zukunft, immer gemeinsam getroffen, und nun musste sie die schwierigste Entscheidung ihres Lebens ohne ihn treffen.
Lara war schon seit frühester Kindheit ein sogenannter “Was-wäre-wenn”-Typ. Sie stellte sich permanent verschiedene Zukunftsvarianten vor und überlegte dann, wie sie sich in einer derartigen Situation verhalten würde. Oft waren es die unrealistischsten und skurrilsten Fälle, die Lara in den Sinn kamen und über die sie sich Gedanken machte. Teilweise war es wie ein Spiel, denn es bereitete ihr Spaß, sich Dinge und Situationen vorzustellen. Auch die Variante einer plötzlichen ungewollten Schwangerschaft hatte sie in ihrer Vorstellung schon des Öfteren durchdacht, doch nun war es auf einmal kein Spiel mehr, sondern Realität. Bislang war sich Lara immer sicher gewesen, dass sie in so einem Fall zuerst einmal mit Michael reden würde, um mit ihm gemeinsam eine Entscheidung zu fällen.
Sie hatten in der Vergangenheit schon mehrere Male über Kinder gesprochen, aber stets waren sie sich einig gewesen, dass sie beide zunächst Karriere machen wollten und erst dann an eine Familiengründung zu denken war. Einmal hatte sie Michael direkt gefragt, was denn wäre, wenn es einfach so passieren würde, ohne dass sie es geplant hätten.
Aber wie immer hatte sich Michael ganz einfach aus der Affäre gezogen, indem er zu ihr sagte: “Aber Lara! Wenn man aufpasst, geschieht es nicht einfach so, und wenn doch, dann reden wir zu gegebenem Zeitpunkt darüber, Schatz, ja? Wir brauchen uns doch keine Gedanken über ungelegte Eier zu machen. Du weißt ja, zusammen finden wir beide doch immer eine Lösung!”
Ja, zusammen! Aber bei dieser Entscheidung konnte er ihr nicht helfen, und doch musste sie für ihn mitentscheiden, schließlich war es auch sein Kind. Wenn er doch nur endlich aus dem Koma aufwachen würde, dann wäre alles wieder so wie früher. Sie sehnte sich so sehr nach ihrem alten Leben zurück und vergaß dabei völlig, wie oft sie sich heimlich darüber beschwert hatte. Nicht selten hatte sie das Gefühl verspürt, dass ihr irgendetwas Entscheidendes in ihrem Leben fehlte, doch in diesem Moment vermisste sie nur Michael!
Wie sollte sie sich bloß entscheiden? Sie wollte nicht wie ihre eigene Mutter, die nach dem Tod ihres Vaters vor vielen Jahren nie wieder geheiratet hatte, ihr Kind alleine großziehen müssen. Doch ebenso wenig konnte sich Lara vorstellen, das Kind abzutreiben. Wenn sie nur erahnen könnte, wie Michael dazu stünde, dann wäre alles viel einfacher. Aber sie wusste ja noch nicht einmal, ob er je wieder aus dem Koma aufwachen würde. Seit Tagen grübelte sie nun darüber nach, was sie tun sollte, aber sie drehte sich im Kreis und kam nicht weiter. Bislang hatte sie nur mit ihrer Mutter über ihre Schwangerschaft gesprochen, und die hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie das Kind auf jeden Fall abtreiben sollte.
“Larissa!”, hatte sie mit fester Stimme gesagt. “Kind! Du ruinierst deine ganze Zukunft, wenn du jetzt ein Baby bekommst. Du bist noch viel zu jung und unerfahren, um ein Kind in die Welt zu setzen. Wie willst du es denn ernähren, solange du nicht einmal dein Studium abgeschlossen hast und jetzt auch noch ohne Vater dastehst? Du musst es abtreiben, das ist die einzig vernünftige Lösung, Larissa. Das siehst du doch ein, oder?”
Schnell war Lara klar geworden, dass es keinen Sinn machte, mit ihrer Mutter über dieses Thema zu sprechen, sie bereute, dass sie es ihr überhaupt erzählt hatte. Natürlich war der Zeitpunkt alles andere als ideal, aber es ging hier doch auch um ein Lebewesen, das ein Recht auf sein Leben besaß. Sie wollte sich später keine Vorwürfe machen müssen, dass sie nur aus Feigheit abgetrieben hatte. Dennoch war ihre Angst groß, nach der Geburt alleine mit dem Kind dazustehen, ganz ohne fremde Hilfe. Sie wusste, dass sie zur Not auf ihre Mutter zählen könnte, aber es war Lara zuwider, sie dafür anbetteln zu müssen und täglich einen vorwurfsvollen Blick zu ernten. Was sollte sie bloß tun? Was war in ihrem Fall die richtige Entscheidung?
Sie beschloss, zu Michael ins Krankenhaus zu fahren und es ihm zu erzählen. Erst neulich hatte sie wieder gelesen, wie wichtig es wäre, viel mit Komapatienten zu sprechen, da ihr Unterbewusstsein doch mehr aufnahm, als man sich vorstellen konnte.
Als sie sein Zimmer betrat, bemerkte sie Michaels Mutter zunächst nicht, die fast regungslos auf einem Stuhl an der Wand saß und eingenickt war. Doch bei Laras Eintreten hob sie den Kopf und sah Lara fragend an. “Was machst du denn schon wieder hier? Du solltest dich doch zu Hause ausruhen, Lara, du bist ja selber noch etwas schwach auf den Beinen.”
“Es geht schon, Maria, danke! Ich wollte Michael noch mal sehen, bevor die Besuchszeit zu Ende ist.”
Frau Bachmann schaute Lara kopfschüttelnd an. “Es ist schön, wie sehr du dich um Michi sorgst”, meinte sie dann freundlich. “Ich bin mir sicher, er spürt das.” Dann erhob sie sich, gab Michael einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verließ das Zimmer.
Nun war Lara alleine mit ihrem Freund. Es versetzte ihr jedes Mal einen gewaltigen Stich, ihn so daliegen zu sehen und nicht mehr für ihn tun zu können, als auf ein Wunder zu hoffen. Sie wusste, dass Michaels Mutter oft in die Kirche ging und eine Kerze für ihn anzündete. Den Gedanken fand sie sehr schön, doch sie selbst war kein gläubiger Mensch, und sie wusste, dass sie ihre Kraft nicht aus Gebeten schöpfen konnte. Vielmehr versuchte sie, im Internet Recherchen zu betreiben, um sich über diverse Heilmöglichkeiten bei Komapatienten zu erkundigen, doch die einzige Erkenntnis, die sie als Laie bislang getroffen hatte, war, dass der Verlauf eines Komas schwer voraussehbar war und einem nichts anderes übrig blieb, als abzuwarten. Allerdings glaubte auch Lara ganz fest daran, dass Michael ihre Anwesenheit spüren konnte, und so wartete sie bei jedem ihrer Besuche hoffnungsvoll auf eine Bewegung oder gar ein Zucken seiner Augen. Seit dem Unfall war nun ein Monat vergangen, und Michaels Zustand erschien nach wie vor unverändert.
Auch an diesem Abend fiel ihr keine Veränderung auf, aber dennoch war sie sich sicher, dass er ihr zuhörte, als sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählte. Es glich einem inneren Monolog, den sie führte und in welchem sie alle möglichen Aspekte und Argumente gegeneinander abwog. Am Ende war sich Lara auf einmal ganz sicher. Sie würde das Kind behalten! Eine Abtreibung kam für sie nicht mehr in Frage, nicht in dieser Situation. Michael sollte ihr nie den Vorwurf machen, dass sie aus Karrieregründen abgetrieben hatte. Ihr war klar, dass er dies vermutlich nie gedacht hätte, aber sie merkte immer deutlicher, wie sehr sie selbst schon an dem ungeborenen Kind in ihrem Bauch hing. Vielleicht würde es ihr Kraft geben können, die Kraft, die sie jetzt benötigte, um die nächsten Tage, Wochen oder gar Monate zu überstehen. In diesem Augenblick überkam sie eine ungeheure Erleichterung darüber, endlich eine Entscheidung getroffen zu haben, wenngleich sie wusste, dass es nicht leicht werden würde. Aber Lara war sich selten einer Sache so sicher gewesen, und das deutete sie als positives Zeichen.
Plötzlich klopfte es an die Tür, und ein Krankenpfleger, der kaum älter als sie selber war, betrat das Zimmer. “Ähm …, du bist sicher die Freundin von Herrn Bachmann, nicht wahr? Du musst jetzt leider gehen, die Besuchszeit ist schon seit einer Stunde vorbei.”
Lara hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war und stellte erstaunt fest, dass sie nun schon seit drei Stunden an Michaels Bett gesessen hatte. “Tut mir leid, ich habe die Zeit ganz vergessen. Ich gehe gleich”, rief sie dem Krankenpfleger nach, der schon wieder halb aus der Tür verschwunden war. Lara gab Michael einen Kuss auf den Mund, strich ihm zärtlich durch sein dunkel gelocktes Haar und flüsterte ihm ins Ohr: “Ich komme gleich morgen früh wieder, mein Schatz.”
Dann ging sie rasch zur Tür und trat auf den hell beleuchteten Gang der Station. Sie bemerkte den jungen Krankenpfleger erst, als sie fast mit ihm zusammengestoßen wäre. Erst jetzt betrachtete Lara ihn etwas genauer und stellte fest, dass er ein sehr markantes Gesicht hatte, das sie freundlich anlächelte.
“Du bist jeden Tag hier, oder?”
Erstaunt über seine Feststellung nickte sie und wunderte sich, dass er sie wohl schon öfters bemerkt haben musste, er ihr aber an diesem Abend zum ersten Mal aufgefallen war. Aber es war wohl kein Wunder, so vertieft sie seit dem Unfall in ihre Gedanken war, entging ihr wohl so einiges.
“Ich heiße übrigens Oliver. Ich mache hier gerade meinen Zivildienst.”
Lara lächelte ihn nun auch freundlich an und gab ihm die Hand. “Und ich heiße Larissa, aber eigentlich nennen mich alle Lara.”
“Du siehst ziemlich fertig aus, Lara. Ich glaube, du solltest dich mal etwas ausruhen.”
“Jawohl, Herr Doktor”, entgegnete Lara und grinste ihn dabei an. Auf dem Heimweg dachte sie noch etwas über die kurze Begegnung mit Oliver nach, was sie zum Schmunzeln brachte, aber schon kurz darauf war sie wieder ganz in Gedanken bei Michael und nahm ihre Umwelt kaum noch wahr.
Doch spät am Abend, als Lara am Schreibtisch ihres kleinen, wenn auch sehr gemütlichen Zimmers saß und ihre Gedanken in ihrem Tagebuch niederschrieb, fiel ihr Oliver wieder ein, und obwohl sie dieser Begegnung keine besondere Bedeutung zumaß, erwähnte sie ihn kurz in ihrem Tagesrückblick. Auch wenn ihre Freundinnen sie manchmal damit aufzogen, führte Lara seit ihrem zwölften Lebensjahr fleißig Tagebuch über all das, was sie in ihrem Innersten bewegte. Vieles von dem, was sie niederschrieb, war so intim, dass sie nie einer Menschenseele davon erzählte. Als sie noch ein kleines Kind war, hatten die Lehrer sich bei ihrer Mutter oft beklagt, wie verschlossen und introvertiert sie doch wäre. Im Gegensatz zu ihren Mitschülern, die redselig jeden Familienstreit ausplauderten, musste man Lara jedes Wort regelrecht aus der Nase ziehen. Im Laufe der Jahre hatte sich dies kaum geändert, und daher war Laras Tagebuch für sie lange Zeit so etwas wie eine fiktive Freundin gewesen, der sie alles anvertrauen konnte. Natürlich hatte sie mit der Zeit Freunde gefunden, mit denen sie die Dinge, die ihr im Kopf herumgingen, bereden konnte, aber nach wie vor half es ihr am meisten, abends kurz vor dem Schlafengehen ihre Gedanken zu ordnen, indem sie diese in ihr Tagebuch schrieb. Am meisten bereitete Lara die Vorstellung Angst, dass jemand eines Tages all ihre geheimsten Gedanken lesen und sich gar darüber lustig machen könnte. Aus diesem Grund hütete sie ihre Tagebücher wie ihren Augapfel und hatte bisher kaum einem Menschen überhaupt von ihrem Hobby erzählt. Insbesondere in den letzten Tagen, seit sie wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war, half es ihr sehr, auf diese Weise mit der ganzen Situation und ihren Schuldgefühlen etwas besser klar zu kommen. Auch an diesem Abend fühlte sie sich, nachdem sie ihren Eintrag beendet hatte, angenehm befreit und hoffte, endlich einmal eine Nacht wieder richtig durchschlafen zu können, ohne von einem der sie in letzter Zeit ständig quälenden Alpträume aus dem Schlaf gerissen zu werden.

(Auszug aus dem Roman von C. S.)

 


 

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Gret Keller: Kaiser Friedrich Barbarossa

Gunzelin kniete sich wieder neben Rudolf und wies Melchior und Bernfried an, die Fackeln so zu halten, dass er eine gute Sicht auf die Wunde hatte. Sein Knappe Malte hatte sich auf die andere Seite gekniet.

“Wirft das Öl kleine Bläschen?”
“Ja, Herr.”
“Dann haltet es bereit!”
Gunzelin sah Malte ernst in die Augen und nickte. Malte legte eine Hand neben die Wunde und ergriff mit der anderen die Pfeilspitze. Gunzelin von Hagen legte ebenfalls seine linke Hand an, sodass die zwei Männerhände das verletzte Gebiet fest umschlossen. Dann holte Gunzelin sein Messer heraus und führte einen entschlossenen Schnitt direkt neben dem Pfeil durch. Noch ein Schnitt. Blut quoll hervor. Ein beherzter Ruck, und Malte hatte den Pfeil herausgezogen.
Rudolf, der vorher nur schwach bei Sinnen gewesen war, bäumte sich schreiend auf.
“Haltet ihn fest und bringt mir das Öl, schnell!”
Immer noch wurde die nun stark blutende Wunde mit den Händen zusammengedrückt.
“Vorsicht! Langsam und nicht zu viel!”
Augenblicklich roch es nach verbranntem Fleisch.
Rudolf winselte und versuchte, sich zu befreien.
“Die Blätter, beeilt euch!” Der Ritter legte Weinblätter auf die Wunde und verlangte nun nach dem bestellten Tuch. Zwischendurch senkte er die Stimme und sagte zu Rudolf: “Ruhig, Kamerad, hast es ja überstanden!”
Nachdem der Verband angelegt war, stand Gunzelin von Hagen auf und massierte sich die Beine.
Rudolf lag zitternd auf seiner Matratze und schnaufte. Sein Körper schwitzte stark.
“Bringt ihm gekühlten Wein, damit er die Hitze loswird! Er hat viel Blut verloren. Lasst ihn Wein trinken, so viel er will! Dann lasst ihn schlafen!”
Gunzelin wandte sich nun wieder an Michel:
“Hast du den Malvasier?”
Michel nickte und hielt den Krug ins Licht.
“Gut. Gieß mir einen Becher davon ein und wenn ich mich gestärkt habe, verbinde ich deinen Vater.”
Michel, dessen Gesicht im Schein des Feuers sehr blass wirkte, zitterten die Hände, und er verschüttete etwas von dem teuren Wein. Plötzlich langte ein Arm von hinten über seine Schulter und der Krug wurde ihm aus der Hand genommen. Gleichzeitig legte sich die andere Hand des Mannes auf Michels Schulter. Der erschrak und blickte sich um.
Es war Herzog Heinrich, der ihn nun ansprach:
“Bist ein wenig schreckhaft, was? Ja, das ist ein hartes Geschäft. Wer ein Kriegsmann sein will, muss sich auch mit Wunden auskennen. Sonst hält der Sensenmann allzu reiche Beute auf dem Feld. Mach dir keine Sorgen, die Verletzung deines Vaters ist längst nicht so schlimm, und außerdem hat er das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt. Da hat er noch Glück gehabt. Wirst sehen, morgen plagt ihn ein tüchtiger Brummschädel, und du musst seine schlechte Laune ertragen.”

(Auszug aus dem Romanmanuskript von Gret Keller, Magdeburg)

 


 

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Angela Braun: Tims größter Wunsch

Als am Morgen Tims Wecker klingelt, ist er sofort hellwach. Mit einem Ruck setzt er sich auf, streckt sich kurz und stellt seine nackten Füße auf den Boden. Heute macht es ihm gar nichts aus, dass die Dielenbretter noch kalt sind. Er braucht nicht einmal seine Pantoffeln, die ordentlich nebeneinander vor seinem Bett stehen. Schnell trippelt Tim auf nackten Füßen ins Badezimmer, putzt sich in Windeseile die Zähne und bändigt mit etwas Wasser und einem Kamm seine vom Schlaf verwuschelten blonden Haare. Die Amsel, seine kleine Freundin, sitzt wie jeden Morgen auf dem Blumenkasten vor dem Badezimmerfenster und sieht ihm dabei zu.
“Guten Morgen, Tim. Was machst du heute bei diesem scheußlichen Wetter?” Dabei plustert sie sich auf und schüttelt ihr vom Regen nass gewordenes Gefieder.
Tim hört seiner Freundin gar nicht richtig zu und würdigt sie keines Blickes. Er strahlt sein Spiegelbild an, das ihm ein breites Grinsen schenkt. “Heute ist mein großer Tag”, ruft er dann nur und eilt hinaus. Zurück in seinem Zimmer, zieht er sich die blauen Hosen an, die ihm Oma Rose letztes Jahr geschenkt hat, und läuft hinunter zu Mama und Papa. Kaum hat Tim die Schwelle zur Küche überschritten, in der es bereits nach Kaffee und frisch gebackenem Kuchen duftet, ruft er fröhlich: “Juhu, heute habe ich Geburtstag!” Dabei reißt er die Arme in die Höhe und wedelt wild mit ihnen in der Luft herum. Leicht außer Atem und höchst ungeduldig steht er danach vor Mama und Papa und sieht sie aufgeregt an. Ob er wohl gleich seine Geschenke bekommt? Ob das eine, ganz besondere Geschenk dabei ist, das er sich so sehnsüchtig gewünscht hat?

Papa kommt auf Tim zu und nimmt ihn fest in die Arme. “Alles Gute zu deinem sechsten Geburtstag, Tim!”
Tim windet sich aus Papas Umarmung und wirft sich Mama in die Arme. Er hält ganz still, als sie ihn zärtlich an sich drückt. Wenn er die Glückwünsche schnell würde über sich ergehen lassen, wäre er sicher bald beim Auspacken der Geschenke … Falsch gedacht!
“Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz”, gratuliert auch Mama. “Komm, setz dich erst einmal hin! Ich habe Schokoladenkuchen gemacht. Und dein Kakao ist auch schon fertig.”
Tim seufzt und atmet tief durch. Um das Frühstück wird er wohl nicht herumkommen, da lassen Mama und Papa nie mit sich reden. Also setzt er sich auf seinen Stuhl und widmet sich seinem Kakao und dem Schokoladenkuchen, der ihm trotz der Aufregung ganz hervorragend schmeckt. So einen schokoladigen Schokoladenkuchen kann nämlich nur seine Mama backen! Mit kleinen Schokostücken, die langsam im Mund schmelzen, wenn man warmen Kakao dazu trinkt. Herrlich! Trotz der Köstlichkeiten wandern Tims Augen immer wieder unruhig hin und her, und er kann kaum still sitzen. Wo sind nur seine Geschenke?
“Möchtest du noch ein Stück?”, fragt Mama, als sie den letzten Kuchenkrümel in Tims Mund verschwinden sieht.
“Nein, danke!”, ruft Tim voller Ungeduld und schiebt seinen Teller von sich. Seine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Noch ein Stück Kuchen würde er sicherlich nicht überleben! Mit einem lauten Quietschen schrammt der Stuhl über den Boden, als sich Tim mit seinen Händen vom Tisch nach hinten abstößt. Die ärgerlichen Blicke von Mama und Papa ignoriert er einfach; heute würde der Holzboden das schon aushalten.
“Ist ja schon gut, Tim”, sagt Papa lächelnd. “Gleich bekommst du deine Geschenke.”
Tim springt vor Freude in die Höhe. “Na endlich!”, ruft er glücklich und mit glänzenden Augen. Er kann es kaum erwarten. Gleich würde sein größter Wunsch in Erfüllung gehen!

Gemeinsam mit Mama und Papa geht Tim ins Wohnzimmer, wo seine Geschenke liebevoll vor der großen Terrassentür aufgebaut sind. Tim entdeckt kleinere und größere Pakete, bunt eingepackt und mit Schleifen verziert. Noch einmal lässt Tim seinen Blick ganz langsam über die verschiedenen Schachteln gleiten, und dann noch einmal. Dann lässt er enttäuscht den Kopf hängen. Das darf doch nicht wahr sein! Das Geschenk, das er sich von ganzem Herzen gewünscht hat, ist nicht dabei – denn es würde gar nicht in einen Karton passen, in den man es hätte einpacken können.
“Willst du deine Geschenke nicht aufmachen?”, fragt Mama und sieht ihn aufmunternd an.
Tim antwortet nicht, die Enttäuschung schnürt ihm schier die Kehle zu. Es ist, als ob ein dicker Kloß in seinem Hals sitzt und ihm das Sprechen unmöglich macht. Also nickt Tim nur, schluckt die Tränen der Enttäuschung hinunter und geht auf den Stapel zu. Lustlos greift er nach einem kleinen Paket und fängt an, es auszuwickeln.
“Das ist von Oma Rose”, hört Tim Mama sagen.
Tim holt eine kleine Plastikschachtel heraus. Der Deckel ist durchsichtig, sodass man den Inhalt sehen kann. Tim entdeckt lauter bunte Teile, die fast wie Pflaster aussehen, und eine Tube. Was ist das bloß? “Ich weiß nicht, was Oma Rose mir da geschenkt hat”, murmelt er vor sich hin.
“Das ist wohl Flickzeug, falls deine Reifen mal ein Loch haben”, erklärt Papa aus dem Hintergrund.
“Welche Reifen denn?”, fragt Tim verwirrt, dabei blickt er immer noch auf die kleine Schachtel in seinen Händen.
“Na, die Reifen deines Rollers”, sagt Mama mit einem strahlenden Lächeln.
Langsam dreht sich Tim um. Und tatsächlich, dort steht Papa – mit einem Roller! Tim bekommt große Augen und kann sein Glück kaum fassen. “Ist der für mich?”
“Für wen denn sonst, du Schlaumeier! Komm her und sieh ihn dir an!”
Das lässt sich Tim natürlich nicht zweimal sagen. Schnell läuft er hinüber zu Papa – und zu seinem Roller! Der Roller ist aus glänzendem Aluminium und hat ein blaues Trittbrett. Rechts an der Lenkstange ist eine Klingel befestigt, der man helle Glockentöne entlocken kann. Auf der anderen Seite ist eine bunte Fahne. Wie herrlich würde die im Wind flattern. Die anderen Geschenke, die immer noch eingepackt auf ihn warten, hat Tim längst vergessen. Für ihn zählt nur noch der Roller.
“Ich darf doch gleich raus und ihn ausprobieren, oder?”, fragt Tim.
Papa sieht Tim überrascht an. “Sag mal, hast du heute überhaupt schon mal aus dem Fenster gesehen? Es regnet in Strömen.”
Tim läuft hinüber zum Fenster und presst seine Nase ganz fest gegen die Scheibe. Oh nein – Regentropfen prasseln wie kleine Trommelschläge an die Scheibe. Das durfte doch nicht wahr sein! Endlich ist sein Traum von einem Roller in Erfüllung gegangen, und dann macht ihm das blöde Wetter einen Strich durch die Rechnung. So hatte er sich seinen großen Tag nun überhaupt nicht vorgestellt. Wütend schlägt Tim mit der flachen Hand auf das Fensterbrett. “Ich will aber raus!”
“Tim, nein, du wirst bloß nass und erkältest dich”, spricht Mama mit sanfter Stimme, um ihn zu beruhigen.
Aber Tim will sich nicht beruhigen. “Tu ich doch gar nicht! Lasst mich doch raus! Bitte!” Dabei wendet er sich vom Fenster ab und stampft mit dem Fuß auf den Boden. Das alles ist so ungerecht!, überlegt er.
Papa kommt hinüber und streichelt Tim verständnisvoll über den Kopf. “Morgen ist auch noch ein Tag; da scheint die Sonne wieder, du wirst sehen! Komm, pack doch erst einmal die restlichen Geschenke aus! Danach gehen wir in den Keller und bauen an dem Piratenschiff weiter. Okay?”
Aber Tim hat keine Lust. Die anderen Geschenke interessieren ihn nicht; auch für das Piratenschiff hat Tim heute keine Muße. Sehnsüchtig blickt er zu dem Roller, der an der Wand lehnt. Ein Roller! So lange hatte er sich den schon gewünscht. Und nun endlich, da er ihn bekommen hat, kann er nicht mit ihm fahren. Das war, als wolle man unbedingt Schokoladenkuchen essen und dürfe das Stück, das vor einem auf dem Teller liegt und so verlockend duftet, nicht anrühren …
Tim kann die Tränen der Enttäuschung kaum zurückhalten. Er stürmt in sein Zimmer. Dort sitzt er schließlich am Fenster, den Kopf traurig auf seine Hände gestützt.
“Ich hasse Regen”, presst er düster hervor. “Wenn es doch nie, nie mehr regnen würde!” Tim ballt seine Hände zu Fäusten, kneift seine Augen zusammen und denkt: Nie mehr Regen! Bitte, ich wünsche mir so sehr, dass es nie, nie mehr regnet!
Den ganzen Tag sitzt Tim traurig am Fenster und lässt sich durch nichts ablenken. Mama kommt ab und zu herein, fragt, ob sie ihm etwas vorlesen soll – vielleicht aus dem Abenteuerbuch, das er so gerne hat. Aber Tim ist so enttäuscht, dass ihn nichts aufheitern kann. Auch als Papa am Nachmittag mit ihm ins Kino gehen will, lehnt er ab. Er will nichts vorgelesen bekommen, auch einen Film will er nicht sehen. Tim will nur eines: Endlich mit seinem Roller fahren.
Doch der Regen lässt den gesamten Tag nicht nach. Auf der Wiese vor Tims Zimmer haben sich schon kleine Pfützen gebildet, und noch immer prasseln dicke Tropfen vom Himmel. Immer wieder wünscht sich Tim, dass es nie mehr regnen würde, damit er endlich mit seinem Roller fahren kann. Sogar nachts im Traum lässt ihn dieser Wunsch nicht mehr los. An einem herrlichen Tag sieht sich Tim mit seinem Roller durch die sonnigen Straßen fegen; die kleine Fahne flattert aufgeregt im Wind …

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelt, stellt Tim ihn verschlafen aus. Doch dann sieht er wieder seinen Roller vor sich und ist plötzlich hellwach. Er springt aus dem Bett und öffnet das Fenster: Draußen herrscht strahlender Sonnenschein! Die Luft ist zwar noch kühl und die Grashalme mit kleinen Tautropfen benetzt, doch ein heißer Tag kündigt sich an. Fröhliches Vogelgezwitscher erfüllt die Luft.
Tims schlechte Stimmung vom Vortag ist wie weggewischt. Flugs zieht er sich an und rennt in die Küche.
“Heute kann ich mit dem Roller fahren, endlich!”, begrüßt er seine Eltern stürmisch, die bereits am Frühstückstisch sitzen und auf ihn warten. Tim ist so nervös, dass er kaum seinen Kakao trinken mag. Dann endlich darf er gehen.
“Viel Spaß!”, rufen ihm seine Eltern hinterher. Doch Tim ist mit seinem Roller längst über alle Berge …

Endlich ist es soweit! Tim braust die Gehwege entlang. Die schwarzen Gummiräder surren über den Asphalt. Den Lenker hält Tim fest gepackt; die kleine Fahne schlägt leise hin und her. Tim ist überglücklich und lässt sich fröhlich den Wind um die Nase wehen.
In einer Allee bestaunt er die Bäume. Wie grüne Wächter säumen sie beide Straßenränder und spenden mit ihren dichten Blättern kühlenden Schatten.
Ein großer, knorriger Baum schüttelt belustigt seine Zweige und beugt sich zu Tim hinunter. “Na, Tim, was hast du denn da?”
“Das ist mein neuer Roller. Toll, oder?” Und schon braust Tim weiter.
Wenig später kommt er an den See. Tim hält kurz an und sieht den bunten Fischen zu, die sich im seichten Wasser am Ufer tummeln. Er versucht, einen mit der Hand zu erhaschen.
Empört flüchten sie in tieferes Gewässer. “Immer dieser Tim!”
Schwups!, und er ist er wieder auf seinem Roller.
Da sind ja Lilly und Lukas, seine besten Freunde! Er hält an und zeigt ihnen stolz sein Geschenk.
“Der ist ja super, neuestes Modell, oder?”, fragt Lukas mit großen Augen.
“Lass uns auch mal fahren!”, drängt Lilly und steht ganz dicht neben Tim, bereit, gleich aufzuspringen.
Doch Tim schüttelt den Kopf. Er sieht auf den Boden, als er mit leiser Stimme sagt: “Meine Eltern erlauben das nicht!”
“Das ist doch Quatsch!”, empören sich Lilly und Lukas wie aus einem Mund.
Doch Tim kann nicht anders. Es ist sein neuer Roller, und den will er erst einmal mit niemandem teilen …

Die Sonne scheint von nun an für lange, lange Zeit. Erbarmungslos verbrennt sie die Erde. Weit und breit findet sich kein einziges Wölkchen am Himmel, das der sengenden Hitze Einhalt gebieten könnte.
Tag für Tag braust Tim mit seinem Roller durch die Gegend, doch es ist so heiß, dass man es kaum aushält. Außerdem fehlen Tim seine Freunde Lilly und Lukas. Aber die beiden sind sauer, weil er sie nicht hat auf seinem Roller fahren lassen …
Und was sieht Tim da? Die Allee, einst so schön, hat sich verändert: Die grünen Blätter sind braun und fallen eins nach dem anderen zu Boden. Mitten im Juli!
“Warum bekommt ihr denn jetzt schon braune Blätter?”, fragt Tim die Bäume.
Der Älteste von ihnen, ein großer, alter Ahorn, neigt sich zu Tim herab. Seine Stimme klingt heiser und rau, als er antwortet: “Ach Tim, es hat schon zu lange nicht mehr geregnet. Wenn wir nicht bald Wasser bekommen, sterben wir alle!” Der alte Baum richtet sich mühsam wieder auf und seufzt.
Schweren Herzens fährt Tim weiter bis zum See. Als er dort ankommt, hätte er beinahe laut aufgeschrieen. Der See ist zu einer kleinen Pfütze zusammengeschrumpft, in der die Fische verzweifelt versuchen, Platz zu finden. An Land würden sie schließlich jämmerlich ersticken. Im Chor rufen sie:
“Tim, hilf uns, wenn nicht bald etwas geschieht, sterben wir alle!”

Panisch springt Tim auf seinen Roller und rast nach Hause. Dort findet er seine Mutter, die verzweifelt am Küchentisch sitzt.
“Sieh nur, Tim!”, sagt sie und deutet auf die verdorrten Blumen im Garten. “Wir haben kein Wasser mehr; alles geht kaputt. Selbst die Vögel sind verstummt!”
Tatsächlich – kein Laut ist zu hören. Tim eilt auf den Busch zu, in dem seine kleine Freundin sonst immer sitzt und fröhlich zwitschert. Doch heute ist sie stumm. Ihr sonst so glänzendes Gefieder ist matt, und ihre Augen strahlen nicht mehr.
“Amselchen, warum singst du denn nicht?”, erkundigt sich Tim, den Tränen nahe.
Der Vogel hat Mühe, ihm zu antworten. “Die Töne vertrocknen in meiner Kehle, noch bevor sie meinen Schnabel verlassen können. Ich hab’ solchen Durst!”
Traurig geht Tim auf sein Zimmer. Das hat er nicht gewollt. Am liebsten würde er seinen Wunsch rückgängig machen. Angestrengt denkt er nach, bis ihm plötzlich eine Idee kommt: In einem Buch hat er einmal gesehen, wie Indianer einen Regentanz um ein Feuer aufführten. Das könnte er doch auch tun, oder?

Ein Feuer hat Tim zwar nicht, da muss wohl seine Nachttischlampe als Ersatz dienen. Tim holt seine Indianerperücke aus dem Schrank, schleicht lautlos in das Badezimmer seiner Eltern, wo seine Mama ihre Lippenstifte aufbewahrt. Er nimmt einen aus der Kosmetiktasche und malt sich damit rote Streifen ins Gesicht. Zurück im Zimmer, stellt er seine Nachttischlampe auf den Boden. Tim atmet tief durch, bevor er mit einem wilden Tanz um die Lampe beginnt. Dabei ruft er immer wieder: “Regnen soll es! Regnen soll es! Dann dürfen auch Lilly und Lukas mit meinem Roller fahren!”
Er tanzt, bis er schweißgebadet ins Bett fällt, ohne die Zähne zu putzen, die Indianerfedern noch auf dem Kopf, die roten Streifen im Gesicht …

Am nächsten Morgen erwacht Tim, noch immer erschöpft von seiner nächtlichen Aufführung. Trotzdem springt er eilig aus dem Bett und öffnet das Fenster. Sein Herz macht einen freudigen Sprung, als er die dunklen Regenwolken am Horizont heraufziehen sieht. Tim rennt in die Küche zu seinen Eltern, die ihn erstaunt ansehen.
“Wie siehst du denn aus?”, fragt sein Papa entgeistert.
Tim versteht erst nicht, doch dann spürt er die Federn auf seinem Kopf. Die hat er total vergessen!
“Ist das mein Lippenstift, Tim?”, staunt seine Mutter und sieht ihn fragend an. “Wozu die Kriegsbemalung?”
Tim lacht fröhlich und ruft: “Juhu, es hat geklappt! Der Regen kommt, schaut nur!” Er rennt in den Garten.
Die Regenwolken sind schon ganz nah. Eine leise Brise verursacht Gänsehaut auf seiner Haut. Als die ersten Tropfen vom Himmel fallen, reißt sich Tim die Federn vom Kopf und tanzt fröhlich im Garten umher. Das warme Wasser wäscht ihm die Farbe aus dem Gesicht. Bald duftet es nach feuchtem Gras.

Kaum hat der Regen nachgelassen, schnappt sich Tim seinen Roller und düst los. Schon erholt sich die Natur. Die Bäume in der Allee treiben bereits junge Blätter aus. Der See ist gut gefüllt, und die Fische haben ihr fröhliches Treiben wieder aufgenommen. Das Schönste aber ist der Gesang der Vögel: Ihre wunderbaren Lieder erfüllen die Luft.
Dann trifft Tim auf Lilly und Lukas. Etwas verlegen hält er an.
“Hallo, ihr beiden, wollen wir zusammen Roller fahren?”, fragt er schüchtern.
Lilly und Lukas tauschen einen verschwörerischen Blick, bevor beide die Mundwinkel zu einem Lächeln verziehen.
“Erlauben deine Eltern das denn?”, forscht Lilly verschmitzt.
Tim windet sich und weiß nicht so recht, was er antworten soll.
Lukas knufft ihn in die Seite. “Nun steig schon ab! Erst bin ich dran.”
Tim überlässt seinem Freund den Roller und ist glücklich darüber, dass Lukas so viel Freude am Fahren hat.
Danach ist Lilly an der Reihe. Sie juchzt vor Vergnügen.
Den ganzen Tag sausen die Freunde durch die Gegend. Was für ein Spaß!
Für Tim ist dies der schönste Tag seit langem, und abends fällt er glücklich und zufrieden in sein Bett.

ENDE

(Erzählung für Kinder von Angela Braun, Schliersee)

 


 

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Brienna de Montfort: Der Schwan und der Rabe

 Es begab sich
in uralter Zeit,
einer Zeit so grau,
da liebten sich
ein Schwan und ein Rabe
im Morgentau.

Zwei Wesen so verschieden,
so wunderschön,
eine Liebe,
die verdammt war,
unterzugehen.

Zwei Herzen im Einklang,
zwei Seelen vereint,
doch niemand,
der um diese unglückliche Liebe weint.

Die Nebel des Morgens,
sie schwanden dahin,
es folgte der Tag
mit herzlosem Sinn.

Der Liebenden Seele,
sie brach berstend entzwei,
ohne Hoffnung auf Rettung,
einerlei.

Der Schwan und der Rabe,
dies ungleiche Paar,
heller als die Sonne
ihre Liebe doch war.

So schworen sie
bei der Weite des Himmels und der Sterne,
sich zu lieben für ewig,
auch aus der Ferne.

“Du bist mein Stern in dunkelster Nacht,
ein Rabe,
wer hätte das gedacht.”

“Du bist meine Sonne,
mein funkelndes Herz,
ein Schwan meine Liebe,
wie ertrag’ ich den Schmerz?”

Die Worte verhallten im Strome der Zeit,
die Liebenden getrennt für die Ewigkeit.

Doch so wie sie geschworen einst,
bei der Tiefe der Nacht,
hat ihre Liebe ein Wunder vollbracht.

Denn sind wir auch,
du und ich,
wie Schwan und Rabe
so verschiedentlich,
mag uns der Raum und die Zeit auch trennen,
so sind wir eins,
an unseren Seelen so leicht zu erkennen.

Glaube nicht das,
was das Äußere dir weismachen will,
sondern vertrau’ auf dein Herz …!

Und die Zeit, sie steht still!

 

(Lyrik von Brienna de Montfort, Bogen)

 


 

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Brienna de Montfort: Der Spielmann

Schon in längst vergangenen Zeiten
er zog durch die Lande,
den Menschen zur Freude,
Wonne er wollte bereiten.

Unstet sein Geist,
reiste er von Ort zu Ort,
immer auf der Suche,
seine Macht das gesungene Wort.

Die Magie seiner Musik,
seiner Instrumente Klang,
keines Menschen Herz konnte
sich entziehen seinem Bann.

Wer einmal hatte vernommen
seiner überirdischen Stimme Gewalt,
die magische Kraft seiner Worte,
der wollte glauben, reisen zu können
mit ihm an weit entfernte Orte.

Der Spielmann aber wurde verdammt,
zu sein ein Kind des Teufels,
von denen,
die ihn nicht verstanden.
Die, die ihn liebten,
ihn aber als eine Gabe der Götter empfanden.

Er,
der Herr des freien Gedankens,
der König der Herzen,
auch heute noch erobert des Menschen Geist,
denn wer einmal hat geblickt tief
in des anmutigen Raben dunkle Augen,
die in der Lage, zu öffnen auch das verschlossenste Herz,
der wird gerne sich lassen seiner Seele berauben.

So ist der Spielmann ein Mittler zwischen den Zeiten,
bereit, zu zeigen uns den wahren Sinn,
wofür zu leben, sich lohnt,
denn in seiner Brust wohl die empfindsamste aller Seelen doch wohnt.

Die,
die ihn so lieben wie er ist,
haben sich zum Danke verpflichtet,
denn der Spielmann
für sie auf die Anerkennung der übrigen Welt verzichtet.

Doch die Liebe der wenigen
ihm mehr bedeutet als aller Schein,
denn die Liebe der wenigen
seine unendliche Kraft auf ewig wird sein.

 

(Lyrik von Brienna de Montfort, Bogen)

 


 

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Brienna de Montfort: Eine Rose im Winter

 Eine Rose im Winter,
blutrot auf kristallenem Grund,
eiskalt der Schnee,
geküsst von deinem Mund.

Eine Rose im Winter,
wie diese so fühlte man sich,
wusste ich doch,
du liebtest nur mich.

Doch die Kälte der Nacht
sie brach der Rose Herz,
so,
wie du mein Herz gebrochen.
Hattest du mir nicht dereinst
die Ewigkeit versprochen?

Eine Rose im Winter,
sie steht für deine Liebe zu mir.
Versprochen bis zum jüngsten Tag –
doch zu blühen, nur einen unvergesslichen Sommer sie vermag.

 

(Lyrik von Brienna de Montfort, Bogen)

 


 

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